Quantcast
Channel: Mémoires de Guerre
Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Das Experiment des Sadisten

$
0
0

Zeit Onlinepubliziert 23/06/2012 at 19:15 Uhr von Amrai Coen

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg infizierte der US-Mediziner John Cutler im Auftrag seiner Regierung fast 1.400 Menschen in Guatemala mit Syphilis. Viele starben qualvoll, noch heute leiden Opfer an ihren Verletzungen. Jetzt tauchen die Versuchsprotokolle auf.

Cutler John CharlesAls der US-Präsident Barack Obama davon erfuhr, rief er eine Nummer mit der Vorwahl von Guatemala an. Er sagte, er empfinde »tiefstes Bedauern« und entschuldige sich bei den Opfern. Der guatemaltekische Präsident Álvaro Colom antwortete, was geschehen sei, nenne er ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

Für den Amerikaner Obama war der Anruf der Beginn einer Aufarbeitung, für die alte Guatemaltekin Marta Orellana war er der Beginn einer Krise. Erst durch diesen Anruf erfuhr sie von ihrem Schicksal. Erfuhr, dass die Amerikaner – als sie ein kleines Kind war – ihr Leben in Leid verwandelt hatten. »Dass ich infiziert wurde, ist schlimm«, sagt sie. »Dass ich davon erfahren habe, ist schlimmer.«

Der Fund, der das Schicksal von Marta Orellana und knapp 1.500 weiteren Guatemalteken verändert hat, lag unberührt vergraben in den Archiven der Pittsburgh-Universität – mehr als fünfzig Jahre lang. Bis zum Jahr 2009. Da entdeckte eine Historikerin die Akten zufällig bei einer Recherche und brachte eine Welle ins Rollen. Nachdem sich Barack Obama bei dem guatemaltekischen Staatspräsidenten entschuldigt hatte, verklagte Guatemala die USA. Nun erreichen die Ausläufer der Affäre die Gerichte. Das, wofür Obama sich entschuldigte, waren Experimente, die zwischen 1946 und 1948 in Guatemala stattgefunden haben. Medizinische Versuche an lebenden Menschen, finanziert von den Vereinigten Staaten.

Der Fund war eine nüchterne Studie mit dem Titel Inoculation Syphilis (»Einimpfen von Syphilis«), verfasst von einem gewissen John Charles Cutler, sieben Kapitel und 314 Seiten lang. Eine Studie, die nie veröffentlicht wurde; wer sie liest, weiß, warum.

Marta Orellana versteht nicht, warum Barack Obama sich entschuldigt hat: »Er kann ja nichts dafür.« Die alte Frau presst die Lippen aufeinander, sie weint, und ihre Tochter sagt: »Du bist auch nicht schuld.« Nein, Orellana ist nicht schuld daran, dass ihre Tochter den Job als Verkäuferin in einem Schnellrestaurant verloren hat, weil sie von ihr, Orellana, »diese Sache« geerbt hat. Orellana ist nicht schuld daran, dass ihr Sohn von seiner Frau verlassen wurde, weil er »diese Sache« hat. Sie ist auch nicht schuld daran, dass ihr Enkel von seiner Geliebten sitzen gelassen wurde, wegen »dieser Sache«.

»Diese Sache«, so nennt Marta Orellana ihre Geschlechtskrankheit, die bedeutet, dass sie oft müde und ihr oft übel ist, dass ihre Augen eitrige Tränen weinen, dass ihr die Haare ausfallen. Sie sitzt in einer morschen Holzhütte in Guatemala-Stadt, La Ilusión heißt das Viertel, Kletterpflanzen dringen durch die Hauswände, das Dach ist eine löchrige Plastikplane, es riecht wie in einem feuchten Keller. Orellana, eine kleine, runde Frau, 74 Jahre, 5 Kinder, 21 Enkel, 8 Urenkel, sagt: »Ich hätte niemals Kinder gekriegt, wenn ich das gewusst hätte.«

Vor vier Wochen hat sie einen Syphilisschnelltest gemacht: positiv. Einen zweiten Test: positiv. Ihre Kinder wurden untersucht. Sohn: positiv, Tochter: positiv, Enkelsohn: positiv. »Es ist wie ein böser Samen, den sie in mich gepflanzt haben«, sagt sie. Und jetzt überwuchert die Krankheit die ganze Familie.

Es ist das Jahr 1946. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, die Welt sortiert sich neu. Die Menschen suchen nach Jobs und Wohnungen, auf dem Schwarzmarkt zahlt man mit amerikanischen Zigaretten. Harry S. Truman ist Präsident der Vereinigten Staaten, Frank Sinatra singt die Nummer-eins-Hits im Radio, der Bikini ist die schockierendste Erfindung des Jahres, die Mikrowelle die praktischste.

Die US-Regierung hofft auf Erfindungen aus der Medizin. Sie kämpft mit Geschlechtskrankheiten. Auf Plakaten steht: »Sie sehen vielleicht sauber aus – aber Prostituierte verbreiten Syphilis und Gonorrhö«. Viele der Kriegsheimkehrer sterben an der Syphilis. Damals schätzt man, dass sich jedes Jahr eine Million Amerikaner neu infizieren.

Seite 2/6 : Cutler hat der Syphilis den Krieg erklärt

Die Syphilis ist eine schleichende Krankheit, sie schwelt lange, bevor sie ausbricht. Normalerweise infiziert man sich beim Geschlechtsverkehr, es gibt aber auch andere Ansteckungswege. Der Erreger wird von Wunde zu Wunde übertragen, eine minimale Verletzung genügt. Neun Tage nach der Infektion entsteht an der befallenen Stelle ein knotiges Geschwür. Wird der Kranke nicht behandelt, kann es drei Wochen später zu Fieber und Schmerzen im ganzen Körper kommen, weitere drei Monate später zu Ausschlag in Mund und Rachen, Augenentzündung, Haarausfall. Nach zwei Jahren greift die Krankheit die inneren Organe an, zerstört die Knochen, die Lunge, die Blutgefäße. Sie kann Menschen lähmen und das Gehirn aufweichen. Sie kann töten.

Sie kann aber auch jahrelang im Körper brodeln, ohne sich zu zeigen. Für unbehandelte Syphilitiker liegt die Wahrscheinlichkeit, dahinzusiechen oder zu sterben, bei 15 Prozent. Viele berühmte Männer sind dem Leiden erlegen. Zum Beispiel der Wiener Komponist Franz Schubert: Sechs Jahre litt er an der Syphilis, bis er 1828 starb. Auch hinter Friedrich Nietzsches geistiger Umnachtung und frühem Tod vermuten Historiker heute eine unbehandelte Syphilis. Heinrich Heine starb wohl an der Krankheit und auch schon Christoph Kolumbus.

Im Jahr 1946 erscheint die Syphilis den Menschen so bedrohlich wie uns heute Aids oder Krebs. »Syphilophobie« heißt die ständige Angst, sich anzustecken. Entdeckte jetzt ein Arzt eine Impfung gegen die Syphilis, er dürfte wohl auf den Nobelpreis hoffen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wird Deutschland entnazifiziert. In Nürnberg stehen zwanzig Ärzte und drei Helfer vor Gericht. Sieben von ihnen werden zum Tode verurteilt, weil sie an Menschen experimentiert haben.

Der amerikanische Mediziner John Charles Cutler ist gerade 31 Jahre alt. Er ist seit einem Jahr mit Eliese verheiratet, die er während des Krieges in New York kennengelernt hat. Cutler trägt einen Doktortitel. Er ist groß und schlank, ein Gentleman, er liebt Eliese und seine Forschung. Sein Spezialgebiet sind Geschlechtskrankheiten.

Frederico Ramos pinkelt seit sechzig Jahren Blut und Schleim

Zuletzt war er Arzt in einem Gefängnis im US-Bundesstaat Indiana. Er und sein Team wollten den Verlauf von Syphilis erforschen und ein Mittel gegen die Krankheit finden. Sie beschlossen daher, Gefangene künstlich zu infizieren, und benutzten dafür Syphilisbakterien von erkrankten Prostituierten, die sie den Inhaftierten auf die Geschlechtsorgane schmierten. Aber die Gefangenen steckten sich ohne Verkehr mit Infizierten nicht an, Cutlers Methode war ineffektiv, seine Forschung sinnlos. Zehn Monate später wurde sie eingestellt.

Doch Cutler ist vom Ehrgeiz getrieben. Er will die Menschheit vor dieser Seuche retten. Er hat der Geißel Syphilis, die Männer in Armeestärke dahinsiechen lässt, den Krieg erklärt. Er ist bereit, Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. »Das Ziel rechtfertigt alle Mittel« ist seine Kampfansage, so erzählt es ein Kollege.

Im Februar 1946 bekommt Cutler von seinem Chef ein Angebot, das für den ehrgeizigen Mediziner wie ein Hauptgewinn klingen muss: Im Auftrag der US-Regierung soll er eine Syphilisstudie in Guatemala leiten. Dort ist es erlaubt, Prostituierte in Gefängnisse zu schicken und sie mit den Gefangenen verkehren zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Inhaftierten sich anstecken, ist also viel höher als bei Cutlers letzter Forschungsreihe. Cutler weiß, dass er weltberühmt werden kann, wenn er das Mittel gegen Syphilis findet. Zusammen mit Eliese zieht er im August 1946 nach Guatemala-Stadt. 65 Jahre später wird die greise Mrs. Cutler sagen, dass es ihr und ihrem Mann dort gut gefallen habe: »Well, we liked it very much.«

Im Jahre 2011 hat Marta Orellana ihre Wut auf dem Küchentisch ausgebreitet. Speckige Din-A4-Bögen, Aktenzeichen 1:11-cv-00527-RBW, I. 2.: »Diese Klage strebt an, den ungeheuerlichen Missbrauch derer aufzuklären, die ohne ihr Einverständnis für Medizinexperimente in Anspruch genommen wurden und mit den verheerenden Folgen leben müssen.« Orellana ist eines von knapp zwanzig Opfern, die eine Sammelklage gegen das amerikanische Gesundheitsministerium eingereicht haben. Sie fordern Schadensersatz.

Die noch lebenden Opfer, das sind neben Marta Orellana Menschen wie Frederico Ramos, 87, der seit mehr als sechzig Jahren Blut und Schleim pinkelt. Es sind Bauern wie Gonzalo Ramirez, der seinen infizierten Vater vor zwölf Jahren verloren hat, dessen Schwester mit Augenschäden geboren ist und dessen Tochter keine Haare hat.

Seit Orellana die Klage unterschrieben hat, ist ihr Leben kompliziert. Zwei Mal musste sie ins Krankenhaus, um zu beweisen, dass sie auch wirklich an der Syphilis leidet. Als in der Zeitung stand, dass die USA unter Umständen tatsächlich Entschädigung zahlen würden, waren plötzlich alle angesteckt – mit der Geldseuche. Hunderte Guatemalteken kamen nun mit der Behauptung an, sie hätten die Syphilis.

Seitdem Orellana unterschrieben hat, musste sie mit Anwälten, Menschenrechtlern und Regierungsvertretern über ihr Leid reden. Seitdem sie unterschrieben hat und in der Lokalzeitung abgebildet war, rufen nachts Kriminelle an und erpressen sie. Sie glauben, bei Orellana werde bald einiges zu holen sein.

Es heißt ja, der Mensch brauche Gewissheit, um sein Leben besser zu verstehen. Aber will er den Grund seines Elends wirklich wissen, wenn sich doch nichts mehr ändern lässt? Will Orellana wissen, dass sie als Neunjährige im Waisenheim Opfer eines Menschenversuchs wurde? Dass sie mit der Syphilis infiziert wurde und so, ohne es zu wissen, ihre Kinder, Enkel und Urenkel mit der Krankheit angesteckt hat? Marta Orellana sagt: »Ich wünschte, ich hätte niemals von dem Experiment erfahren. Mein Leben wäre einfacher.«

Mitte der vierziger Jahre kommt ein neues Medikament auf den Markt, es heißt Penicillin, es könnte Tausenden das Leben retten. Aber Penicillin ist teuer und knapp. Auch weiß man noch nicht viel über diesen neuen Wirkstoff, welche Nebenwirkungen er hat, ob er überhaupt hilft, wie viel man einem Patienten verabreichen darf. Forscher testen den Stoff an Kaninchen.

Seite 3/6 : Das Experiment beginnt mit Prostituierten

Im April 1947 erscheint in der New York Times eine Meldung, die von der Wunderwirkung des Medikaments berichtet. Spritzt man den Versuchstieren wenige Tage nach der Ansteckung Penicillin, bricht die Krankheit nicht einmal aus. Das Experiment weckt Hoffnungen, auch die Syphilis endlich in den Griff zu kriegen – wenn es nur erlaubt wäre, das Teufelszeug an Menschen zu testen. »Aber weil es ethisch unmöglich ist, Syphiliskeime in einen menschlichen Körper zu spritzen«, schreibt die New York Times, werde es wohl noch Jahre dauern, bis dieses Medikament nicht nur Versuchskaninchen, sondern auch Menschen helfen könne.

Jenseits der Landesgrenzen allerdings ist die Forschung grenzenlos – besonders für Dr. Cutler. Er und seine Kollegen sind kurz davor, das, was die New York Times »ethisch unmöglich« nennt, bei Gefangenen und Psychiatriepatienten in Guatemala durchzuführen. Denn Cutler will alles über die Syphilis wissen: Wie die Krankheit verläuft, wie er sie behandeln kann. Er will beweisen, dass der neue Wirkstoff Penicillin hilft, und er will die richtige Dosierung finden.

Nach seiner Ankunft in Lateinamerika sammelt er zunächst Unterschriften. Er bringt die leitenden Beamten des guatemaltekischen Gesundheitsministeriums dazu, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen, ebenso die Befehlshaber der Armee, den Chef eines Gefängnisses und den Leiter der staatlichen Psychiatrie. Cutler verspricht dem Land ein neues Hightech-Labor, gelobt die Förderung guatemaltekischer Ärzte und sagt dem Militär Gratisrationen von Penicillin zu. Finanziert werden seine Bemühungen vom Gesundheitsministerium der USA – also vom amerikanischen Steuerzahler. Die guatemaltekische Obrigkeit ist einverstanden: Man lässt Cutler freie Hand bei dem, was er »Forschen« nennt.

Nach dem guatemaltekischen Gesetz ist es verboten, Geschlechtskrankheiten bewusst zu verbreiten. Aber das Land ist zu jener Zeit im Umbruch, es hat gerade einen Diktator gestürzt, und keinen kümmert die Bürokratie. Sogar der neue Präsident Juan José Arévalo weiß, dass amerikanische Forscher ein Syphilisexperiment in seinem Land starten. Guatemala sieht in Cutlers Studie die Chance, das eigene Gesundheitssystem zu verbessern und von qualifizierten ausländischen Ärzten zu lernen.

Cutlers Weg, das »ethisch Unmögliche« möglich zu machen, beginnt bei den Prostituierten. Er spritzt ihnen Syphiliserreger und lässt sie auf Soldaten und Gefangene los. Dass die Probanden das minutenkurze Glück ihr Leben kosten kann, ahnen sie nicht. Eine Prostituierte lässt Cutler mit acht Soldaten hintereinander verkehren, in 71 Minuten. So steht es in seinen Notizen.

Den Sexualkontakt nennt Cutler »die natürliche Methode«. Doch es geht ihm immer noch nicht schnell genug, zu wenige Männer infizieren sich. Cutler wird ungeduldig, greift zu Zahnstocher und Tupfer und schmiert syphilisverseuchte Flüssigkeit tief in die Harnröhren seiner Patienten. In der Psychiatrie greift er zum Skalpell, kratzt münzgroße Wunden in die Penisse der Männer und tröpfelt Syphilisbakterien darauf, den Frauen spritzt er die Keime direkt ins Rückenmark. Das nennt Cutler »die künstliche Methode«.

Und seine Frau Eliese fotografiert: Hände in Latexhandschuhen, die wunde Penisse in die Kamera halten. Roter Hautausschlag auf Brüsten und Schultern. Tischtennisballgroße, matschige Wunden an Armen und Beinen. Hunderte Fotos auf Kodachrome-Filmen macht sie, farbig und scharf dokumentiert sie die Welt des Dr. Cutler im 16-Millimeter-Format.

Cutler ist verrückt nach seiner Forschung. Sie macht ihn blind. Für ihn sind die Patienten keine Menschen, er sieht sie als Teil seiner Studie. Er verfasst mehr als 10.000 Notizen, die 63 Jahre später von Wissenschaftlern als »schlampig« bezeichnet werden. Er gibt den Patienten Spitznamen wie »der Stumme aus San Marcos« und »Berta«.

Berta musste viel leiden. Sie war Patientin der Psychiatrie. Wie alt sie war, ihren Nachnamen, ihre Nervenkrankheit – all das hat Cutler nicht dokumentiert. Im Februar 1948 spritzt er Berta die Syphilisbakterien in den linken Arm. Einen Monat später juckt ihre Haut. Cutler notiert, dass ihr rote Beulen an den Stellen wachsen, an denen er sie gestochen hat. Wunden klaffen an Armen und Beinen, ihre Haut verkümmert. Erst drei Monate nach der verseuchten Spritze gibt er ihr eine kleine Dosis Penicillin.

Ein halbes Jahr nach der infektiösen Injektion, am 23. August, schreibt Cutler: »Berta scheint zu sterben.« Am selben Tag streicht er ihr Eiter mit Gonorrhö-Bakterien eines anderen Patienten auf die Augen, schmiert die Keime auf ihre Harnröhre, auf ihren After. Und er spritzt ihr noch einmal Syphiliserreger. Ein paar Tage später sind Bertas Augen matschig und eitrig, sie blutet aus der Harnröhre. Am 27. August stirbt die Probandin Berta.

Cutlers Aufzeichnungen lesen sich streckenweise wie Tagebucheinträge eines Sadisten. Sie erinnern an den KZ-Arzt Josef Mengele, den »Todesengel von Auschwitz«, berüchtigt für seine Experimente an Häftlingen, Kleinwüchsigen und Zwillingen. Mengele, mitverantwortlich für den Massenmord an Hunderttausenden Juden.

»Er war kein Monster!«, sagt Eliese Cutler über ihren Mann. Während John Cutler in der Psychiatrie mit geschenkten Kühlschränken und Zigarettenspenden die Weiterführung seiner Studie ermöglicht, zahlen die Patienten mit ihrem Leben. Laut seinen Aufzeichnungen sterben insgesamt 83 Menschen während seiner Studie. Dokumentierte Infizierte: 558 Soldaten, 486 Psychiatriepatienten, 6 Prostituierte, 39 andere.

Seine Versuchskaninchen nennt Cutler »Volontäre«, aber es gibt kein einziges Dokument, das belegt, dass auch nur ein einziger Patient aufgeklärt worden wäre oder gar freiwillig an den Experimenten teilgenommen hätte. Solche schriftlichen Einverständniserklärungen sind Gesetz seit dem Nürnberger Ärzteprozess. Und Medizinversuche, die Menschen schaden könnten, sind streng verboten.

Seite 4/6 : Korrupte Ärzte, niedrige Arbeitskosten, jede Menge Menschenmaterial

Dem Briefwechsel mit seinem Vorgesetzten in den USA, Dr. John Mahoney, lässt sich entnehmen, dass Cutler und sein Team sehr wohl wissen, was sie da tun und wie weit jenseits der ethischen Grenze sie sich bewegen. In einem Brief erwähnt Cutler den Artikel aus der New York Times. Er schreibt: »Uns ist beiden klar, dass es nicht ratsam ist, zu viele Leute von dieser Arbeit wissen zu lassen.« Er bittet darum, nur Leute ins Programm zu lassen, »denen man vertrauen kann, dass sie nicht reden«. Insgesamt sind zwölf guatemaltekische und vierzehn amerikanische Ärzte in die Studie involviert. Ein Kollege schreibt an Cutler, dass er mit dem Gesundheitsminister gesprochen habe, der »sehr interessiert an dem Projekt« sei: »Seine Augen funkelten vor Freude, als er sagte: ›Wissen Sie, so ein Experiment könnten wir hier in den USA niemals machen.‹«

Korrupte Ärzte, niedrige Arbeitskosten, jede Menge Menschenmaterial – Guatemala ist für Cutler der ideale Ort für Experimente. Alle Kontrollen, jedes Gewissen kann er mit seinem Ehrgeiz lahmlegen. Er spannt ein Netz aus Verbündeten, es reicht vom guatemaltekischen Präsidenten bis zum amerikanischen Gesundheitsminister. Er kann sie für seine Studie begeistern und von seiner vermeintlich noblen Absicht überzeugen, die Menschheit von der Seuche Syphilis zu befreien.

Im Jahre 1948 ist Marta neun Jahre alt. Es ist die Zeit, als Cutler beschließt, auch im Waisenheim zu experimentieren. Martas Mutter starb, als sie vier war, der Vater im Jahr danach. Mit fünf kam das Mädchen ins Heim, ein ganzer Häuserblock im Zentrum von Guatemala-Stadt, großer Garten, Swimmingpool und rund 400 andere Waisenkinder. Marta mag das Leben im Heim, das Glas Milch morgens und abends, die Ausflüge in den Zoo, den Schwimmunterricht. Sie ist stolz auf ihre Uniform: weißes Hemd, blauer Rock, weiße Kniestrümpfe; und sie ist eine gute Schülerin.

Einmal im Monat müssen die Kinder zur Vorsorge ins Krankenzimmer, dann wird in Hals, Nase, Ohren geguckt und nach Läusen gesucht. Marta und die anderen Waisen spielen gerade Verstecken im Garten, als eine Krankenschwester ruft: »Marta Orellana ins Krankenzimmer! Marta Orellana!«

Als die großen, weißhäutigen Ärzte ihr mit einem Skalpell in den linken Unterarm schneiden, schreit sie vor Schmerz. Sie halten die Wunde mit Pinzetten auf und träufeln eine Flüssigkeit hinein. Sie kleben ein Pflaster über den Schnitt und schicken das Kind zurück in den Garten. Aber Marta will nicht mehr spielen, der Arm tut weh.

Die alte Marta streicht mit dem Daumen über ihre Narbe am Unterarm, als wolle sie die verseuchten Tropfen entfernen. 65 Jahre sind seit dem Schnitt vergangen, und sie erzählt ihre Geschichte nüchtern, als sei es nicht ihre, sondern die einer anderen.

Drei Monate nach dem schmerzhaften Termin wird die neunjährige Marta erneut ins Krankenzimmer gerufen. Die zwei weißen, großen Ärzte sind wieder da, und zwei guatemaltekische Krankenschwestern. »Mach deinen Oberkörper frei!«, befehlen sie, aber Marta will nicht. Die Schwestern halten sie fest, ziehen ihr die Bluse aus, sie soll sich vornüber beugen. Als ihr eine Nadel in die Wirbelsäule gestoßen wird, weint sie leise. Sie fühlt, dass jemand ihr Flüssigkeit aus dem Rücken zieht. Danach kann sie sich nicht bewegen, die Schwestern legen sie in ein Krankenbett. Sie wird gefüttert, weil sie die Arme nicht mehr heben kann. Sie bekommt Spritzen und fragt, warum. Sie darf nicht aufstehen und fragt, warum. Sie soll keine Fragen stellen und fragt, warum. Die Schwestern schweigen.

Als sie nach drei Monaten das Bett verlassen darf, wird sie wieder ins Krankenzimmer gerufen. Es ist das letzte Mal, dass sie den zwei großen weißen Ärzten begegnet. Sie soll sich auf die Liege legen und die Beine spreizen. Marta weigert sich. Die Schwester ruft den Direktor, er schlägt ihr mit der Hand ins Gesicht, »Nun mach schon, Entchen!«. Die Schwestern drücken sie auf die Liege, der weiße Arzt steckt ihr Wattebäusche zwischen die Beine, drückt sie in ihre Vagina. Jetzt schreit Marta.

»Womit habe ich das verdient? Hatten sie keine Kaninchen?« 65 Jahre später wirft Marta Orellana Fragen in den Raum: »Wieso ich? Wieso wir? Wieso hier?« Als könnten Fragen ihre Kindheit zurückholen, als könnten sie ihr Leben reparieren.

Das Experiment teilt ihr Leben in zwei Epochen: In ein Davor und ein Danach. Davor sei sie ein liebes Mädchen gewesen, gut in der Schule, freundlich. Danach war sie traurig, aggressiv, blieb sitzen. »Sie haben meinen Charakter verändert.« Marta Orellana ist jetzt krank.

In den Wochen, Monaten, Jahren danach, sind Martas Augen oft matschig, sie hat dicke, eitrige Wunden an den Beinen, die nennt sie »Vulkane«, sie hat Haarausfall. Mit 14 Jahren verlässt sie das Heim, will eine Ausbildung zur Näherin machen, kriegt aber keine Arbeitsbescheinigung. »Du hast schlechtes Blut«, sagt der Arzt und schickt sie weg. Es wird fast sechzig Jahre dauern, bis sie versteht, was er damit meint: Syphilis.

Infizierte Mütter können ihre Kinder während der Schwangerschaft anstecken. Die meisten von Cutler Infizierten haben heute, sofern sie die Experimente überlebt haben, wahrscheinlich Kinder, Enkel und Urenkel. Mit seinen Experimenten hat Cutler inzwischen vier Generationen vergiftet. Er hat nicht nur 1.308 Menschen infiziert, sondern vielleicht vier- oder fünfmal so viele.

Wird die Krankheit heute erkannt, lässt sie sich einfach beseitigen. Mit wenigen Penicillin-Spritzen sind die meisten für immer geheilt, Rückfälle sind selten. Marta Orellana hat sich nach jenem letzten Arztbesuch nie wieder untersuchen lassen, sie hatte kein Geld für einen Doktor, und so wurde ihr Leiden nie diagnostiziert.

»Ihr habt sein Lebenswerk zerstört!«, sagt Cutlers Witwe, so laut sie kann

Wenn sie könnte, würde sie Dr. Cutler gern treffen und ihn fragen, warum er ihr das angetan hat. War es ein Befehl von oben? Musste er gehorchen? War es sein eigener Wille? Sie kann ihn nicht mehr fragen.

Aber Eliese Cutler kann man fragen, John Charles Cutlers Witwe. Sie ist die letzte noch lebende Zeugin auf der Täterseite. Eliese ist heute 94 Jahre alt und hängt an einem Sauerstoffgerät, das lauter blubbert, als sie spricht. Vor dem Gespräch mit der ZEIT hat sie noch nie öffentlich über die Guatemala-Studie ihres Mannes geredet. Sie ist eine kräftige, alte Frau mit weißen Haaren und Knollennase, eine Frau, die aussieht, als könne sie Francis Bacon zu einem Gemälde inspirieren. Sie wohnt in einer gepflegten Straße in einem wohlhabenden Viertel Pittsburghs, in einem eindrucksvollen Haus mit zwei Stockwerken. Drinnen riecht es ungelüftet, nach Schweiß, Staub, Essen und Alter. Eliese Cutler kann nicht mehr laufen, ihre Tage verbringt sie in einem orangefarbenen Sessel, sie liest die Lokalzeitung, aber auch das wird bald nicht mehr gehen, ihre Augen werden jeden Tag schlechter. Eine Haushaltshilfe öffnet die Tür.

Seite 5/6 : 1.308 Menschen infizierte Cutler gezielt mit Syphillis

Eliese Cutler sagt, so laut sie kann: »Ich bin verbittert. Ihr alle – ihr habt sein Lebenswerk zerstört.« Sie ist überaus klar im Kopf, ihre Erinnerungen an die Vergangenheit spickt sie mit Details: Dass ihr das Pumpernickel-Brot mit dem Kochschinken gut geschmeckt hat, als sie mal in Hamburg war. Dass sie die Staatsoper mochte und den Hafen. Nur wenn sie nicht antworten will, seufzt sie: »Ich bin alt, daran erinnere ich mich nicht mehr.« Das Wort »Syphilis« nimmt sie nicht in den Mund. Auch sie sagt: diese Sache. »I don’t want to talk to you about that thing.«

Wer in ihrer Gegenwart von »Mr Cutler« spricht, dem fällt sie ins Wort, sie wird dann lauter als ihr Sauerstoffgerät und spricht sehr deutlich: »DOKTOR Cutler

Wie würde Dr. Cutler reagieren, könnte man ihn heute zu der Studie befragen?

»Er würde sich verteidigen«, sagt Mrs Cutler. »Waren andere Zeiten damals.« Sie hält sich fest an diesem Satz wie ein Ertrinkender am Rettungsring, »Es waren andere Zeiten«, murmelt sie noch einmal. Sie starrt in den Raum und reibt mit einem Daumen über den anderen. Es ist, als sei sie stecken geblieben in dieser »anderen Zeit«, einer Zeit, in der ihr Ehemann Cutler noch der berühmte, beliebte Forscher war. Als sei sie damals eingefroren und würde jetzt, Jahrzehnte später, wieder aufgetaut.

Eliese und John Cutler hatten keine Kinder. Die Forschung war ihr gemeinsamer Stolz, ihr Lebensinhalt. Stellte Frau Cutler diese Forschung mit 94 Jahren infrage, nähme sie ihrem Leben jeden Sinn. Also stellt sie nicht sich, sondern die Welt infrage: »Versteht ihr denn alle nichts von Geschichte? Dass Kulturen sich wandeln? Traditionen sich ändern? Medizinethik wurde erst in den Fünfzigern erfunden. Es waren andere Zeiten!«

Medizinethik gab es schon vor dem Christentum, im Eid des Hippokrates steht geschrieben, dass Ärzte den Kranken und Schwachen kein Leid zufügen dürfen. Die Rezitation dieses Eides gehört seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zum Promotionsritual der meisten amerikanischen Hochschulen. Auch Cutler kannte den Schwur. Und wusste man nicht auch schon Mitte der vierziger Jahre, dass Kinder, neunjährige Waisenkinder, schutzbedürftige Wesen sind?

Frau Cutler bittet die Reporterin zu gehen.

Sie haben die Fotos gemacht, Mrs Cutler!

»Ach, ich habe überall auf der Welt fotografiert«, sagt sie, und es klingt, als sei sie eine Touristin gewesen, als seien ihre Aufnahmen von blutenden Penissen, von eitrigen Wunden nichts als Bilder von Sehenswürdigkeiten. »Ich bin alt, daran erinnere ich mich nicht mehr.«

Es waren auch Mrs. Cutlers Bilder, die das Lebenswerk ihres Mannes als eine Schande entlarvten. Sie lieferten die Beweise, dass er ein Täter war. Wieder bittet sie die Reporterin zu gehen. Und noch was: »Nein, keine Fotos.« Nicht von der Hauseinrichtung, nicht vom Porträt ihres Mannes auf der Anrichte und schon gar nicht von ihr selbst.

1948, als Cutler sich schon seit zwei Jahren in Guatemala aufhält und noch immer keine Erkenntnisse nach New York geschickt hat, wird ihm das Fördergeld gestrichen. Er bittet um Verlängerung, doch sein Chef lehnt ab.

Cutler kehrt zurück in ein Amerika, das sich gerade vom Zweiten Weltkrieg erholt hat, in dem es wieder Jobs gibt und außerdem Fertighäuser zum Wohnen. Auf dem Weg zum Karrieregipfel ist Cutler ein bedeutendes Stück weitergekommen. Er wird jetzt als Forschungsleiter nach Indien geschickt. Kommt abermals zurück nach Amerika und steigt weiter auf. Wird Chefarzt, wird oberster Berater des Gesundheitsministeriums, wird Dekan.

Die Guatemala-Studie mit dem Titel Inoculation Syphilis veröffentlicht er nie. Vielleicht, weil nichts für die Forschung Wesentliches drinsteht. Wahrscheinlicher aber, weil die Erbarmungslosigkeit seiner »Forschung« schon damals für Aufregung gesorgt hätte. Cutler begräbt die Studie in den Archiven der Pittsburgh-Universität.

Medizinhistoriker haben die Studie und fast 10.000 weitere Dokumente im vergangenen Jahr für die amerikanische Regierung ausgewertet. Sie stellen fest, dass rund 5.000 Menschen Teil der Cutler-Studie waren und 1.308 von ihm gezielt infiziert wurden. Aus Cutlers Notizen lässt sich nicht ablesen, bei wie vielen Opfern die Krankheit wirklich ausbrach und wie viele davon mit Penicillin behandelt wurden.

Michael Utidjian, ein höflicher pensionierter Krebsforscher, der ein britisches Englisch spricht, arbeitete zur gleichen Zeit wie Cutler als Dozent in Pittsburgh. Wer ihn anruft und nach seinem Kollegen fragt, dem sagt er als Erstes: »Man sollte ja nichts Böses über Tote sagen. Aber Cutler war kein guter Mensch.« Die beiden wurden 1967 Kollegen, Utidjian war 16 Jahre jünger als Cutler. Er beschreibt ihn als einen Mann, der wichtig aussah, »wie ein Senator«. Manchmal aßen sie gemeinsam in der Kantine zu Mittag, Cutler erzählte dann von Guatemala.

Utidjian erinnert sich an ein Gespräch, das er mit ihm führte:

Cutler: »Ihr müsstet mit Krebs und Aids heute so forschen wie wir damals! Ihr müsst rausfinden, was die Klinikchefs brauchen. In der Psychiatrie waren das zum Beispiel Kühlschränke. Wir kauften ihnen welche vom Geld des Gesundheitsministeriums, eine Art Bestechung, und sie ließen uns dafür freie Hand bei ihren Patienten.«
Utidjian: »Du hast Menschen bewusst mit Syphilis infiziert?«
Cutler: »Ja, das ist richtig.«
Utidjian: »Wenn du das wirklich gemacht hast, dann habe ich ein Problem damit.«
Cutler: »Brauchst du nicht. Das Ziel rechtfertigt alle Mittel.«

Seite 6/6 : Pharmakonzerne missachten Regeln in Schwellenländern

Cutler habe immer breit gelächelt, wenn er von Guatemala sprach, er habe es »den aufregendsten Teil seines Arbeitslebens« genannt. Er habe gern im Mittelpunkt gestanden, und mit seinen provokanten Erzählungen tat er das oft. Junge Ärzte wie Utidjian habe er damit schockieren können. Aber auch Utidjian sagt, es waren andere Zeiten damals. »Menschenexperimente waren abstoßend, aber nicht weltfremd.«

In den sechziger Jahren war John Cutler in eine weitere Studie involviert, die sogenannte »Tuskegee-Studie«, ebenfalls finanziert vom amerikanischen Gesundheitsministerium. Eine Studie, bei der 399 syphiliskranke schwarze Schafhirten aus Alabama 40 Jahre lang nicht behandelt, sondern nur beobachtet wurden. Bis in die siebziger Jahre hinein, als Penicillin schon längst ein gängiges Medikament war, erforschten die Ärzte an ihnen immer noch die Langzeitfolgen der Erkrankung. »Ihnen Penicillin zu geben, hätte die Studie behindert!«, rechtfertigte sich Cutler 1993 in einer Fernsehdokumentation, als er mit der Tuskegee-Studie konfrontiert wurde.

Mit Guatemala wurde er niemals öffentlich konfrontiert, er wurde auch nie zur Rechenschaft gezogen. John Charles Cutler starb als Koryphäe für Geschlechtskrankheiten am 8. Februar 2003 an einer Lungenentzündung. Er wurde 87 Jahre alt. Das war sechs Jahre bevor die Welt von der Studie erfuhr. Bis zuletzt galt er als wichtiger Mann, zu dessen Gedenken jede Woche eine »Cutler-Vorlesung« an der Universität von Pittsburgh gegeben wurde. In seinem Nachruf in der Pittsburgh Post Gazette steht: »Er war bescheiden, was seine persönlichen Erfolge anging, aber entschlossen in seiner Mission.«

Aber manchmal kommt eine Geschichte aus der Vergangenheit zurück und erzählt uns etwas über die Gegenwart. In Schwellenländern wie Indien, Nigeria und Argentinien testen ausländische Pharmaunternehmen Medikamente, die noch erprobt werden. Die Unternehmen heißen zum Beispiel AstraZeneca, Pfizer und GlaxoSmithKline.

AstraZeneca geriet zuletzt in die Medien, weil der Konzern ein Mittel gegen Herzinfarkt in Indien testete. Derzeit werden in dem Land knapp 1.900 Studien mit mehr als 150.000 Probanden durchgeführt. Die meisten von ihnen sind arm und Analphabeten. Laut einer Untersuchung des indischen Gesundheitsministeriums sind zwischen 2007 und 2010 insgesamt 1.722 Inder infolge ihrer Teilnahme an Medikamentenstudien gestorben, die Dunkelziffer soll noch höher liegen.

In Nigeria erkrankten 1996 Zehntausende Menschen an Hirnhautentzündung. Der amerikanische Pharmakonzern Pfizer soll die Epidemie dazu benutzt haben, um ein neues, nicht zugelassenes Antibiotikum an 200 Kindern zu testen. Elf starben, viele wurden blind, taub, hatten Hirnschäden. Von der Krankheit? Von den Spritzen? Das weiß niemand, aber Pfizer einigte sich außergerichtlich mit den Hinterbliebenen und erklärte sich bereit, 75 Millionen Dollar zu zahlen.

Im Januar dieses Jahres verurteilte ein argentinisches Gericht den britischen Konzern GlaxoSmithKline zu einer Zahlung von 180.000 Euro. Das Unternehmen hatte 2007 und 2008 Kleinkinder mit einem Impfstoff gegen Lungen- und Ohrenentzündung behandelt – teilweise ohne gültige Einverständniserklärung der Familien. Tausende Kinder waren an der Studie beteiligt, 14 Babys starben während der Testphase. Und was, wenn ein Forscher morgen das Medikament gegen Aids fände? Würde die Menschheit wirklich wissen wollen, woher es kommt? Würde man das Medikament zurückweisen, weil es bei Menschenversuchen getestet wurde?

Auch deshalb will Marta Orellana klagen. Damit solche Versuche in Zukunft unterbleiben. Aber gut sieht es nicht aus für sie: Das amerikanische Justizministerium hat im Januar 2012 den Antrag gestellt, die Klage fallen zu lassen. Das Gericht sei »nicht das richtige Forum« für eine solche Debatte. Vergangenen Herbst hat eine von Obama eingesetzte Bioethik-Kommission den Fall aufgearbeitet und gefordert, die US-Regierung solle die Opfer entschädigen. Im Januar hat sich das amerikanische Gesundheitsministerium verpflichtet, 1,8 Millionen Dollar an Guatemala zu zahlen – wahrscheinlich wird davon ein neues Krankenhaus gebaut. »Die Opfer sind nicht zufrieden und beharren auf der Strafanzeige«, sagt Henry Dahl, einer der Anwälte, der die Guatemalteken vor Gericht vertritt.

»Was bringt mir ein neues Krankenhaus?«, fragt Marta Orellana. Ein bisschen Geld, damit sie morgens ihre Milch trinken kann, wie früher im Kinderheim, dann wäre sie zufrieden. In Guatemala liegt die Lebenserwartung für Frauen bei 73 Jahren. Marta Orellana ist 74. »Ich schaue dem Tod jeden Tag ins Gesicht«, sagt sie und will, dass die Amerikaner sich beeilen mit ihrer Wiedergutmachung. Die meisten Infizierten sind tot. Letztes Jahr ist wieder einer der Kläger gestorben.

Marta Orellana sitzt noch immer in der Bruchbude, die sie ihre Küche nennt. Ihre Urenkelin Abigail, drei Jahre alt, kommt herein gelaufen und ruft: »Oma, da ist ein Schmetterling!« Abigail zieht an Orellanas Hose, sie soll mitkommen. Die alte Frau stützt sich auf dem Tisch ab und stemmt sich auf die Füße. Sie zieht das linke Bein nach und hinkt hinter Abigail in den Garten. Sie schauen auf den roten Schmetterling, der auf einem Blatt sitzt. »Lass ihn fliegen«, sagt die Uroma, »tu ihm bloß nichts.«

Nächste Woche muss Marta Orellana noch einmal ins Krankenhaus, sie wird jetzt mit Penicillin behandelt. Sie wird Abigail mitnehmen, auch ihr soll Blut abgenommen werden für einen Syphilistest. Es kann sein, dass auch die Kleine »diese Sache« hat. Dass auch sie ein Opfer ist. Ein Opfer des Forschers Dr. Cutler.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>