Quantcast
Channel: Mémoires de Guerre
Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Zeitgeschichte - Wallenberg war ein Doppelagent

$
0
0

Der Spiegelpubliziert 30/09/1996 at 21:09 Uhr

Ein historisches Rätsel ist das Los von Raoul Wallenberg, der 1944 im deutsch besetzten Ungarn aus den Deportationszügen der SS nach Auschwitz Juden herausholte - mit Schutzpässen der schwedischen Regierung rettete er 10 000 Verfolgte und brachte einen SS-General dazu, 70 000 im Budapester Ghetto vor einem Pogrom zu bewahren. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 begab er sich ins sowjetische Hauptquartier. Seither ist Raoul Wallenberg verschwunden. Der Kreml behauptete, er sei einem Herzinfarkt erlegen - im Moskauer Lubjanka-Gefängnis, wo sich auch Asservate fanden: Paß, Notizbuch, Zigarettenetui.

Wallenberg RaoulGulag-Häftlinge glaubten, ihm in Arbeitslagern oder im Gefängnis Wladimir begegnet zu sein. Nachforschungen mit Fotos, die per Computer Wallenberg als alten Mann darstellten, blieben vergeblich. Der ehemalige Vizechef der sowjetischen Auslandsspionage, Pawel Sudoplatow, der vorigen Mittwoch in Moskau verstarb, hatte 1994 erklärt, Wallenberg sei ein Agent gewesen, der gleichzeitig für den amerikanischen, britischen und deutschen Geheimdienst spionierte und nach seiner Weigerung, auch für die Sowjets zu arbeiten, mit einer Giftinjektion getötet wurde. War der Philanthrop ein Agent - und für wen, und warum? Der SPIEGEL hat in Archiven und in Gesprächen mit Zeitzeugen eine Antwort gesucht. In Rußland recherchierten der Publizist Lew Besymenski, 75, und sein Kollege Lew Jelin, 34; in den USA forschte der Historiker Axel Frohn, 44.

Er hatte immer viel Geld und Gold im Wagen, er mußte ja für viele Menschen sorgen", erzählte Thomas Veres, der Fotograf des Nothelfers Raoul Wallenberg: Für Tausende rettende Schutzbriefe mit der schwedischen Königskrone fertigte Veres die Paßfotos und dokumentierte mit versteckter Kamera, durch ein Loch in seinem Schal, SS-Terror in Budapest 1944.

"Wir waren mal zusammen in einer Schokoladenfabrik, er kaufte auf der Stelle das ganze Warenlager auf - Zucker, Mehl, Schokolade, alles", berichtete Veres dem SPIEGEL. "Wallenberg bezahlte bar."

15 000 seiner Schutzbefohlenen brachte der Legationssekretär in 31 Häusern Budapests samt Krankenhaus (mit 40 Ärzten), Kinder- und Altenheimen unter, neutralen Inseln unter blaugelber Schwedenflagge - finanziert mit Mitteln des War Refugee Board (WRB).

Ein Wahlmanöver des US-Präsidenten Roosevelt, der die Stimmen der amerikanischen Juden brauchte, hatte - viel zu spät - im Januar 1944 zur Gründung dieses seinem Stab unterstellten Rats für Kriegsflüchtlinge geführt, mit Filialen und Büros in den neutralen Ländern Schweden, Schweiz, Spanien, Portugal, Türkei. Mehrere Projekte, die Ausreise der Juden aus den von Hitler besetzten Ländern zu ermöglichen, waren am Widerstand von US-Behörden gescheitert.

Rotes Kreuz, religiöse Organisationen, vor allem das jüdische Hilfskomitee Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) stifteten Geld, bis zum Ende des Krieges kamen 40 Millionen Dollar zusammen. Das WRB transferierte die Mittel nun nach Schweden und in die Schweiz, wo die Dollar in ungarische Pengö, polnische Zloty oder rumänische Lei umgewechselt und meist zum Kauf von Lebensmitteln für verfolgte Juden verwendet wurden. Nach Schweden gingen diese Gelder zur Enskilda-Bank, die zwei Onkeln Raoul Wallenbergs gehörte, Marcus und Jacob.

Das hieß Hilfe in letzter Stunde: Im Februar 1944 begannen US-Bomber damit, zielgenau die deutschen Flugzeugfabriken zu zerstören. Da entschied Hitler, Jagdflugzeuge und Raketen in riesigen unterirdischen Werkstätten bauen zu lassen - von Juden. Nur in Ungarn, dessen Grenzen sich die Rote Armee näherte, hatte noch eine jüdische Volksgruppe mit etwa 700 000 Seelen überlebt.

100 000 Arbeiter seien in die Höhlenfabriken zu deportieren, erklärte Hitler. Vollstrecker Himmler kündigte 200 000 an. Im Juni behauptete er dann schon, in den KZ werde "ein Drittel der deutschen Jäger fabriziert".

Allein in den von Ungarn annektierten Territorien, die zur Slowakei oder zu Rumänien gehört hatten, wohnten fast 300 000 Juden, darunter viele Flüchtlinge aus Deutschland und Polen; sie wollte die ungarische Regierung als erstes loswerden, erklärte der Sekretär des ungarischen Premiers einem SS-Führer.

Hitler hielt sich an seine Lösung, die er dem ungarischen Staatschef Admiral Horthy beschrieb - mit dem einzigen, vom Dolmetscher festgehaltenen Eingeständnis seines Genozids in Polen: "Wenn die Juden dort nicht arbeiten wollten, würden sie erschossen. Wenn sie nicht arbeiten könnten, müßten sie verkommen."

Da die Ungarn schon viele jüdische Männer in Baubataillone an der Ostfront eingezogen hatten, erwies sich nur etwa ein Drittel der nach Auschwitz transportierten Juden als "arbeitseinsatzfähig", überwiegend Frauen. Er habe Arbeitsfähige bis zum Alter von 60 Jahren verlangt, suchte sich Adolf Eichmann, der Organisator der Verschleppungen, später bei seinem Verhör in Israel herauszureden, doch die ungarische Polizei "wollte keine Altersgrenze, wollte alles evakuieren". Mütter mit ihren Kindern, Alte, Kranke, mitunter ganze Transporte starben im Gas, an Hunger und Seuchen.

In Budapest wurde die schwedische Gesandtschaft mit Hunderten von Anträgen überflutet und von Asylsuchenden besetzt. So viele Verzweifelte hofften sich mit schwedischen Pässen zu retten, daß ein neuer Beamter kommen mußte, um die Sache in die Hand zu nehmen.

Am 25. Mai 1944, so ergibt sich aus jetzt freigegebenen US-Akten, ersuchte US-Außenminister Cordell Hull mit Telegramm Nr. 1010 seinen Botschafter in Schweden, Hershel Johnson, an die schwedische Regierung die Bitte zu richten, "zu humanitären Zwecken notwendige Schritte für maximale Erweiterung des schwedischen Botschafts- und Konsulatspersonals zu unternehmen".

Am 21. Juni nennt Johnson dem State Department Raoul Wallenberg mit Namen, am 26. Juli meldet er dessen Eintreffen in Budapest. Am selben Tage notiert der Vizechef der Aufklärungsabteilung des US-Geheimdienstes OSS, Oberstleutnant Sands, ein enger Kontakt zum WRB sei hergestellt.

OSS-Resident Iver Olsen, der Finanzattaché der US-Botschaft in Stockholm, war zugleich WRB-Beauftragter. Er hatte Raoul Wallenberg als Kandidaten für Budapest ausgewählt - hauptsächlich wohl wegen dessen Verwandtschaft, darunter Schwedens Außenminister im Ersten Weltkrieg. Der Wallenberg-Clan betrieb Bank- und Industriegeschäfte, widmete sich aber auch der Politik. Und die ist auch für wohlsituierte Schweden nicht immer ein Gesellschaftsspiel.

Die Onkel von Raoul Wallenberg - die berühmten Bankiers Marcus und Jacob Wallenberg - hatten ihrem Neffen einen Platz in einer der Abteilungen ihrer Stockholmer Enskilda-Bank in Aussicht gestellt, er studierte lieber in den USA Architektur, wurde aber kein Architekt. Er machte kleine Export-Geschäfte - ohne Erfolg, so daß er seinem Onkel Jacob einmal gestand: "I have neither job, nor money, that is depressing." Und das machte ihn für Nachrichtendienste interessant.

1936 volontierte er ein halbes Jahr bei der Holland-Bank in Haifa und wohnte in der Arlosorov-Straße Nr. 18 in einer kleinen Pension, wo eine aus Deutschland geflüchtete jüdische Familie lebte. Er erfuhr die Verbrechen der Nazis aus erster Hand. Einmal sagte er: "So ein Mensch wie ich, der zugleich ein Wallenberg und ein halber Jude ist, kann nie untergehen."

Nach seinem Praktikum in Haifa bekam er das Zeugnis: "Für das Bankgeschäft ungeeignet." Marcus und Jacob gaben Raoul denn auch keinen Job in ihrer Bank. Im Krieg hatte er mit einer Firma Mellaneuropeisk Handels AB, die mit Gewürzen und Gänseleber in Zentraleuropa handelte, einigen Erfolg. Dazu verhalfen ihm sein Finanzier, Onkel Jacob, und sein Kompagnon, der ungarische Jude Kálman Lauer.

Die Firma Kálman Lauer & Raoul Wallenberg unterhielt ihr Kontor in demselben Haus, in dem sich das Büro des Agenten Olsen befand. Der traf im Aufzug Lauer, dessen Frau in Budapest lebte und in Gefahr war: Wallenberg wolle sowieso, erzählte er Olsen, nach Budapest fahren, um Frau Lauer zu retten.

Wallenberg verfügte fortan über 150 000 Dollar des WRB, die bei der Enskilda-Bank deponiert waren, und erhielt das Recht, die US-Nachrichtendienstkanäle zu benutzen. Er empfing eine Liste von V-Leuten der amerikanischen und britischen Nachrichtendienste, mit deren Hilfe er Kontakte zu ungarischen und deutschen Behörden knüpfen könnte.

Auf der Liste stand auch der Name Fritz Laufer, Prager Jude und Mitarbeiter der Abwehr, des militärischen Nachrichtendienstes der deutschen Wehrmacht unter Admiral Canaris, hernach von Himmlers Sicherheitsdienst (SD) - und des OSS, genauso wie der Abwehr-Agent Andor ("Bandi") Grósz, der ständig Waren, Geld und Nachrichten zwischen Budapest und Istanbul schmuggelte.

Den Kontaktleuten nach zu urteilen, die er empfahl, hatte Olsen mehr im Sinn als die Verteilung von Schutzpässen und Hilfsgeldern. Für ein großes diplomatisches Unternehmen aber qualifizierte Wallenberg vor allen Dingen sein Name.

Die Firmen der Wallenbergs agierten in dem vom Krieg verschonten Schweden arbeitsteilig: Marcus Wallenberg hielt zu den Alliierten, Jacob übernahm die Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland, eine überaus lukrative Verbindung - auch für die deutschen Partner. Die Enskilda-Bank vermittelte kriegswichtiges Material an die Deutschen (ebenso an die Sowjetunion), zum Beispiel Kugellager und Edelstahl, tarnte deutsche Beteiligungen an schwedischen Unternehmen und brachte auf dem internationalen Markt, zusammen mit dem Otto-Wolff-Konzern, Wertpapiere zum Verkauf, welche die Nazis zusammengeplündert hatten.

Wie sein Landsmann Birger Dahlerus, der 1939 als Makler für den NS-Fürsten Hermann Göring den Krieg hatte verhindern wollen, betrieb Jacob Wallenberg hinter den Kulissen auch Diplomatie. Seit 1934 unterhielt er Beziehungen zu dem Widerständler Carl Goerdeler und übermittelte Botschaften der deutschen Opposition an den Briten-Premier Winston Churchill. Im Herbst 1943 traf er sich mit Goerdeler in Berlin. Im Jahr darauf bemühte sich auch Himmler um einen Draht zu dem Bankier. Dem sollte schließlich sogar der nach dem 20. Juli 1944 inhaftierte Goerdeler noch Himmlers Avancen gegenüber den Westmächten unterbreiten.

Schon seit anderthalb Jahren, seit dem Scheitern des deutschen Vormarsches in Sowjetrußland, führte Rechtsanwalt Carl Langbehn Gespräche mit dem Stockholmer OSS-Chef Bruce Hopper - im Auftrag seines Hausnachbarn Heinrich Himmler (beider Töchter waren Klassenkameradinnen). Jetzt wurde es ernst: Der Krieg ging verloren, der "Reichsführer-SS" suchte seine Haut zu retten.

Hitler erwog das ebenfalls. Mit Churchill könne er sich nicht arrangieren, erkannte er. "Mit Stalin wäre der Führer schon eher zu verhandeln bereit", glaube aber nicht an ein Resultat, notierte Goebbels 1943 in seinem Tagebuch.

Himmler war klar, daß niemand mit Hitler kontrahieren würde, und ergab sich dem Wahn: vielleicht mit Himmler. Er bot an, den von ihm organisierten Holocaust abzubrechen - er nutzte die Juden Ungarns, um deren Überleben Raoul Wallenberg kämpfte, nun als Pfand.

Nach sieben Wochen zählte die ungarische Polizei 434 351 nach Auschwitz Deportierte aus den Randprovinzen. Da wurde die Aktion abgebrochen, ehe sie die Hauptstadt erfaßte: Vier Flüchtlinge aus dem Todeslager hatten von Preßburg aus ihre Erlebnisse an das WRB übermitteln können, die Telegramme fingen die Ungarn ab. Vom Papst in einem persönlichen Appell ermuntert und von den Alliierten nun sogar bedroht, ordnete der Staatschef Admiral Horthy am 6. Juli 1944 das Ende der Transporte an.

An diesem Tag flog Raoul Wallenberg, 32, von Stockholm nach Berlin und fuhr dann mit seinem grünen Rucksack per Bahn nach Budapest, dem Paris des Ostens, vom Krieg noch unberührt und gut versorgt, ein Treffpunkt diverser Nachrichtendienste - darin Stockholm ähnlich - mit einem US-Agenten bei der SS, jüdischen Verbindungsleuten in deutschen Diensten und sowjetischen Agenten überall.

Nach der ersten "Evakuierung" lebten noch etwa 280 000 Juden in Zentral-Ungarn. Ein führendes Mitglied ihrer Hilfsorganisation Waad, Joel Brand, hatte ein Netz zur Ausschleusung von Juden aus Polen und der Slowakei nach Ungarn aufgebaut; über den rumänischen Hafen Konstanza führte dann eine Fluchtlinie bis nach Palästina. Um Kontakt mit dem Waad aufzunehmen, kam sogar der Krakauer Judenretter Oskar Schindler nach Budapest.

Himmler begann sein absurdes Spiel: Um mit den Alliierten über einen Sonderfrieden - mit ihm, dem Massenmörder, als Partner - verhandeln zu können, bot er an, eine Million Juden zu tauschen - gegen 10 000 Lkw.

Damit auch gleich klar wurde, was für eine Allianz sich der Herr über KZ, Polizei, Gestapo und Waffen-SS herbeiphantasierte, und um sich gegenüber Hitler - falls er davon erführe - abzusichern, versprach Himmler, die Lastwagen für drei SS-Divisionen nur an der Ostfront einzusetzen (schon im Dezember 1942 hatte Hitler ihn generell zu einer "Loslösung von Juden gegen Devisen" ermächtigt). Seitens der Amerikaner und Engländer hätte dies den Bruch ihres Abkommens mit Stalin bedeutet, niemals separat und nur bedingungslos mit den Nazis Frieden zu schließen.

Eichmann, der stets wie sein Vorgesetzter, Gestapochef Heinrich Müller, möglichst viele Juden umbringen wollte, befolgte anfangs Himmlers Weisung noch. Während seine Schergen mit ungarischen Polizisten in Karpathien und Nord-Siebenbürgen alle Juden zum Abtransport nach Auschwitz zusammentrieben, bestellte er Joel Brand zu sich und eröffnete ihm am 25. April 1944:

"Ich bin bereit, Ihnen eine Million Juden zu verkaufen ... Ware für Blut, Blut für Ware. Was wollen Sie gerettet haben? Zeugungsfähige Männer? Gebärfähige Frauen? Greise? Kinder?" Und: "Fahren Sie in die Schweiz, in die Türkei, nach Spanien, wohin immer Sie wollen. Ich verkaufe Ihnen eine Million Juden für 10 000 Lkw, 1000 Tonnen Kaffee und etwas Seife."

Und: "Ein kulantes Angebot - ein Lastauto für 100 Juden. Das ist doch nicht viel." Bringe Brand binnen zwei Wochen einen positiven Bescheid, "dann sprenge ich Auschwitz in die Luft".

Drei Tage nach Beginn der Transporte, am 17. Mai, begab sich Brand mit deutschem Reisepaß nach Istanbul, zusammen mit dem Abwehr- (und OSS-)Agenten Bandi Grósz, Wallenbergs Kontaktmann. Der war vorher vom SD-Vertreter in Budapest, Otto Clages, und dessen Gehilfen (und OSS-Agenten) Fritz Laufer ins Bild gesetzt worden. Die Nachricht an die Amerikaner und Briten sollte lauten: "Es ist Zeit, den Krieg mit dem Westen zu beenden. Wir brauchen eine gemeinsame Front gegen Rußland."

Die Briten waren gegen den Deal und verhafteten Brand. Moskau, an der Menschenrettung sowieso desinteressiert, wurde um Einverständnis ersucht, und Vizeaußenminister Wyschinski erklärte - wie zu erwarten war - jegliche Verhandlungen mit dem Feind als unannehmbar.

Die Todesmühlen von Auschwitz liefen weiter. Am 20. Juli 1944 veröffentlichte die Times Eichmanns Angebot. Himmlers Vorstellung von einem mächtigen "Weltjudentum", das die Politik bestimmt, erwies sich als Wahnidee.

Horthy hat in seinen Memoiren festgehalten, daß "Wallenberg sich an den Verhandlungen über Freikauf der Juden in die Schweiz beteiligte". Dasselbe hörte später der russische Schriftsteller Gennadij Fisch von Wallenberg-Verwandten, und: Deshalb sei er bei den Russen in Ungnade gefallen.

Aus der kleinen Kanzlei seines Vorgängers hatte Wallenberg in der Üllöi-Straße Nr. 4 für die Verwaltung seiner Schutzhäuser und die Ausgabe von Pässen ein Büro mit mehreren hundert Angestellten gemacht. Zur "Expositur" in der Tátra-Straße gehörten auch ein Kurierdienst und eine Abteilung "Information".

Der Schwede hatte ein Nachrichten- netz aufgebaut, das ihn rechtzeitig die von SS und ungarischen Behörden geplanten Maßnahmen erfahren ließ. Seiner Mutter schrieb er einmal, in den Wochen, nachdem die Regierung eine neue Massendeportation beschlossen hatte, habe er den Außenminister zehnmal, den Vizepremier und den Innenminister jeweils zweimal und den Finanzminister Ungarns einmal aufgesucht.

Der Schwede mußte auch zur SS gute Beziehungen pflegen - wie Oskar Schindler zum SS-Mörder Amon Göth im Lager Plaszów bei Krakau. Wo immer gegen die Juden vorgegangen wurde, erschien Wallenbergs Studebaker, "Judenhund" nannte Eichmann den Schweden. Er selbst beschrieb in einem Brief an seine Mutter den SS-Obersturmbannführer ironisch als "quite a nice man".

Hätte Himmlers Gestapo Wallenbergs Tätigkeit unterbinden wollen oder den Befehl dazu erhalten, hätten sich auch die entsprechenden Mittel finden lassen. Nichts zwang sie, die schwedischen Schutzpässe anzuerkennen oder darüber hinwegzusehen, daß sie wahrscheinlich aus den Werkstätten des OSS stammten.

Einige Attentatsversuche gingen offenbar stets von ungarischen Faschisten, den "Pfeilkreuzlern", aus und nicht von der SS: Wallenberg wurde gebraucht.

OSS meldete intern im Dezember 1944: "Legationssekretär Wallenberg stellte sich selbst unter den Schutz der deutschen Waffen-SS." Am 8. Mai 1945, vier Monate nach Wallenbergs Verhaftung durch die Sowjets, telegrafierte US-General Key aus Caserta, dem US-Hauptquartier in Italien, an sein Außenministerium: "Die Sowjets könnten sehr wohl überzeugende Beweise einer Pro-Nazi-Kollaboration Wallenbergs" haben. Vielleicht bezog sich Key auf sowjetische Gerüchte, Wallenberg habe deutschen Kriegsverbrechern mit gefälschten Papieren die Flucht vor der Roten Armee aus Ungarn ermöglicht.

Er mußte sich auch in anderer Richtung absichern. In den Akten des State Department ist festgehalten, Wallenberg sei möglicherweise mit einer "secret mission for Roosevelt" betraut gewesen. Seine Aktivitäten für den OSS, Vorläufer des US-Geheimdienstes CIA, bestätigt ein Rechtsgutachten zur Klage von Wallenbergs Halbbruder Guy von Dardel in einem 1984 beim District Court in Washington angestrengten Verfahren gegen die Sowjetunion:

"In Ungarn sammelte Wallenberg auf Wunsch der US-Regierung wesentliche Informationen über die Kriegsanstrengungen der Nazis und das Maß des Rückgangs gegen Kriegsende. Wallenbergs Stellung als Mitarbeiter, Beobachter und Informationsquelle hinter den feindlichen Linien war für unser nationales Interesse, den Krieg so schnell und effektiv wie möglich zu beenden, lebenswichtig."

Als die Sowjets 1945 schon auf der Pester Seite der ungarischen Hauptstadt standen, fuhr Wallenberg unter Beschuß auf den Burgberg von Buda, beobachtete die Geschützstellungen der Roten Armee und der deutschen Verteidiger; er trug seinem Fotografen Thomas Veres auf, sie zu fotografieren. Veres: "Es war ein hochinteressantes, einzigartiges Schauspiel voller Rauch und Feuer: Götterdämmerung." Seine Fotos, berichtete er dem SPIEGEL, zeigten mehr von den deutschen Positionen als von denen der Russen, die Kilometer weit weg lagen.

Über Wallenbergs Aktivitäten war der sowjetische Geheimdienst informiert, er hatte viele Späher in Budapest mit Funk- und Kurierverbindungen nach Moskau. Eine kommunistische Widerstandsgruppe im Untergrund führte in Budapest László Rajk (der später als Außenminister von seinen Genossen hingerichtet wurde). Aus deutschem KZ entlassen, knüpfte Rajk im Auftrag des illegalen ZK Kontakte zu bürgerlichen Kreisen, die Fühlung zu den Alliierten suchten: Er konspirierte unter anderem mit dem ungarischen Geheimdienstchef István _jszászy und der Schauspielerin Katharina Korády. Einige Namen der Rajk-Konfidenten stehen auch im aufgefundenen Notizbuch Wallenbergs; wegen der Aktrice Korády soll Ujszászy den Schweden einmal zum Duell gefordert haben.

Raoul Wallenberg, der aus einer beinahe gescheiterten Existenz nun zu einem wichtigen Diplomaten aufgestiegen war, kungelte mit undurchsichtigen Zuträgern und Intriganten unterschiedlichster Provenienz, um seiner menschenrettenden Mission willen. Dabei drehte er ein großes, vielleicht zu großes Rad.

Als Wallenbergs Kollege in der Kgl. Schwedischen Gesandtschaft, Abteilungsleiter für sowjetische Kriegsgefangene - Schweden nahm in Ungarn die diplomatischen Interessen der UdSSR wahr -, fungierte Michail Golenischtschew-Kutusow-Tolstoi, ein Emigrant aus Rußland. Das Mitglied gleich mehrerer Adelsfamilien, denen ein Feldherr und Rußlands größter Dichter angehört hatten, betätigte sich beim Roten Kreuz und diente auch dem ungarischen Innenministerium als Berater in Flüchtlingsfragen. Er meldete nach Moskau, Wallenberg sei ein SS-Kollaborateur.

Wallenberg hatte aber auch seinen eigenen Ostkontakt, wie die Baronin Elisabeth von Kemény-Fuchs bezeugt, die schöne Ehefrau des ungarischen Außenministers Gabór Kemény. Ihr Mann wollte die hochschwangere Frau im November 1944 aus dem belagerten Budapest nach Meran in Sicherheit bringen (heute lebt sie in Bayern, er wurde hingerichtet). Kurz vor ihrer Abfahrt am 4. Dezember sagte ihr Wallenberg: "Ich habe über Sie mit Alexandra Kollontai gesprochen", der Sowjetbotschafterin in Stockholm, einst Kampfgefährtin Lenins. "Ich habe sie gebeten, für Sie und Ihr Kind Sorge zu tragen, wenn das nötig würde und Sie Madame Kollontai ansprechen."

Beim britischen Foreign Office stand Jacob Wallenberg in Verdacht, für Geschäfte in der Nachkriegszeit einen neuen Brückenkopf in Osteuropa zu planen, dafür habe er seinen Neffen Raoul nach Budapest geschickt. Denn der Kreml stand sich gut mit den Wallenberg-Bankiers: Im Winterkrieg der UdSSR gegen Finnland 1939/40 hatten sie vermitteln sollen, im Februar 1944, als Helsinki einen Sonderfrieden suchte, taten sie es - sie arrangierten vertrauliche Gespräche, mit Hilfe der Botschafterin Kollontai.

Die Moskowiter sondierten selbst in Stockholm wiederholt einen Separatfrieden mit Deutschland - Vizeaußenminister Dekanosow, ein Vertrauter des sowjetischen Polizeiministers Berija, kam dazu womöglich extra nach Stockholm.

In Budapest aber gewann der junge Mann aus der Wallenberg-Familie für Moskau einen Stellenwert allerhöchsten Ranges: Es ging auch hier um Nazi-Kontakte mit dem Westen in der finsteren Absicht, eine Einheitsfront gegen die UdSSR zu schaffen - für die Sowjetunion eine Frage von Leben und Tod.

Denn Himmlers gescheiterter Handel - Ware gegen Blut, Lkw gegen Juden - fand eine Fortsetzung. Das State Department verfaßte ein Memorandum, die humanitäre Aktion zum Freikauf der Juden von der SS lasse sich weiterführen - in der Schweiz, dort gab es keine offiziellen Vertreter der UdSSR; der Leiter des OSS-Büros am Ort, Allan Dulles, war erfahrener als die Residentur in Istanbul.

Und auf deutscher Seite trat nicht der berüchtigte Eichmann auf, sondern der kaum bekannte, joviale SS-Obersturmbannführer Kurt Becher, 35. Nach der Überstellung von 318 Juden aus Bergen-Belsen in die Schweiz traf er sich am 21. August 1944 in St. Margarethen an der deutsch-schweizerischen Grenze mit Saly Mayer, dem Bevollmächtigten der jüdischen Hilfsorganisation Joint.

Drei Tage später untersagte Himmler die von der ungarischen Regierung vorbereitete Verschleppung Budapester Juden. Becher versprach, die "Vergasungen einstellen zu lassen", und verhandelte im November in Zürich mit dem WRB-Vertreter Roswell McClelland, der ihm ein Telegramm des US-Außenministers Hull zeigte, wonach 20 Millionen Schweizer Franken überwiesen seien.

Himmler ließ tatsächlich die Gaskammern in Auschwitz stillegen: "Ich verbiete mit sofortiger Wirkung jegliche Vernichtung von Juden und befehle im Gegenteil die Pflege von schwachen und kranken Personen." Eine Kommission des Roten Kreuzes konnte das Lager betreten. Weitere 1700 ungarische Juden gelangten in die Schweiz.

Eichmann aber ließ 25 000 Männer und 15 000 Frauen, jede zweite im Besitz eines Schutzpasses, zu Fuß - bewacht von ungarischen Polizisten - über 180 Kilometer nach Österreich treiben, um dort zu schanzen, für einen "Südostwall" gegen die Rote Armee.

1200 kamen schon auf dem Marsch ums Leben, 4000 holte Wallenberg, der mit seinem Wagen den Elendszügen gefolgt war, nach Budapest zurück. In Berlin schrie Himmler Eichmann an: "Wenn Sie bisher Juden ermordet haben und ich Ihnen jetzt befehle, Juden zu pflegen, dann erklären Sie mir, ob Sie diesen Befehl von mir ausführen oder nicht!" Eichmann: "Jawohl, Reichsführer."

Himmlers Intimus Walter Schellenberg, der den Auslandsgeheimdienst leitete und schon mit Jacob Wallenberg in Stockholm geredet hatte, nahm - hinter dem Rücken Hitlers - die Sache in die Hand, "um die Möglichkeit für Verhandlungen Himmlers und anderer Vertreter des Dritten Reiches mit den Vereinigten Staaten zu schaffen". So hat sein Mitarbeiter Hans Eggen ausgesagt.

Am Ende des Krieges gab es, wenn auch nur als Versuchsballon, eine Konkurrenz zwischen Ost und West um Kontakte zur SS, und von beiden Seiten über die Wallenbergs. Jetzt ließ sich ermitteln, daß der frühere Geheimdienstgeneral Radomir Bogdanow, später Vizevorsitzender des sowjetischen Friedenskomitees, einem ZK-Mitglied eröffnet hat, es habe 1944 einen "Verhandlungskanal" zwischen Berija und Himmler gegeben; Mittelsleute seien der SS-Führer Kurt Becher sowie der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg gewesen.

Beide Partner handelten demnach ohne Wissen ihrer Herren. Raoul Wallenberg wurde so für Berija zu einem gefährlichen Zeugen.

Sondierte Himmler wirklich in zwei Richtungen? Im August schickte er seinen Vertrauten Langbehn nach Stockholm, um "in Moskau anzufragen, ob Stalin für einen Sonderfrieden zu gewinnen wäre". Im Oktober setzte Himmlers Masseur Kersten, ebenfalls in Stockholm, den OSS-Agenten (und Jacob-Wallenberg-Vertrauten) Hewitt unter Druck: Die Russen hätten dem SS-Hauptquartier einen Sonderfrieden angeboten.

Im November unternahm Schellenberg dasselbe: Himmler werde sich notfalls "selbst zum Kommunisten erklären und sein Los auf die russische Seite werfen". In seiner wirren Hoffnung auf Akzeptanz gab Himmler der West-Option den Vorzug - mit den Juden als Offerte und Raoul Wallenberg womöglich als Makler.

"Was hätten Sie gesagt, wenn Sie erfahren würden, daß Wallenberg für den amerikanischen Nachrichtendienst gearbeitet hat?" wurde die Baronin Kemény-Fuchs gefragt. Ihre Antwort: "Mir wäre es egal. Die Hauptsache war das Werk, das er leistete. Egal, mit wessen Hilfe."

Ebenso mag Wallenberg, unerfahren in den Usancen der Spionagedienste, gedacht haben. Er brauchte die Hilfe des OSS-Residenten Olsen als Geldtransferquelle, das Einverständnis der SS und auch die Hilfe der Sowjets, als die Rote Armee vor den Toren von Budapest stand. Jeder seiner Kontakter verfolgte dabei eigene Ziele. Als Schachfigur im fremden Spiel aber war Wallenberg nicht mehr Herr des eigenen Schicksals.

Vor den Sowjets hatte er keine Angst, wie neue Quellen belegen. Der Polit-Chef der 151. Schützendivision, Dmitrenkow, meldete nach Moskau, daß Wallenberg von selbst zu ihnen gekommen sei. Der ungarische Geheimpolizist Károly Reményi, der später mit der Affäre befaßt war, meinte jedoch, die Sowjets hätten nach Wallenberg gefahndet.

Dmitrenkows Untergebener Jakow Walach berichtete später, daß der Schwede unbekümmert die Sowjets von sich aus aufsuchte; zwei Offiziere aus höheren Stäben hätten alle Zeugen zum Schweigen verpflichtet und Wallenberg mit einem Wagen abgeholt (dabei waren laut Reményis Bericht, der dem SPIEGEL vorliegt, seine Hände mit Riemen zusammengebunden). Es folgte ein Telegramm des Vizeverteidigungsministers Bulganin, er sei nach Moskau zu bringen.

Zusammen mit seinem Chauffeur Langfelder fuhr Wallenberg mit der Eisenbahn über Rumänien, so erzählte er hernach einem Zellengenossen. Sie konnten am Grenzort Jassy aussteigen und ein Restaurant besuchen, so Langfelder. In der Sowjethauptstadt zeigte man beiden stolz die U-Bahn.

Laut Lubjanka-Registrierungskarte galt Wallenberg vom 19. Januar an als verhaftet und wurde am 6. Februar in das Moskauer Zentralgefängnis eingeliefert. Die ersten drei Wochen saß der Deutsche Gustav Richter mit ihm in einer Zelle, er fand Wallenberg in guter Stimmung. Erst viel später, so berichtete ein anderer Zellengenosse, der Diplomat Bernhard Rensinnhof, schrieb Wallenberg einen Protestbrief an Stalin, in dem er auf seinen diplomatischen Status verwies und seine Freilassung verlangte.

Der Diktator pflegte eben auch Gäste in einer Lubjanka-Zelle unterzubringen - um unter diesen Bedingungen ihre Kontakte auszuforschen, ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen. 1945 unterzog er auf diese Weise mehrere seiner verdienstvollsten Auslandsagenten einer Überprüfung. Es ließ sich nicht ausschließen, daß auch Raoul Wallenberg ein Freund der Sowjetunion war oder werden könnte.

Er kam in die Zelle 151 der Lubjanka, des Hauptquartiers der Geheimpolizei. Jakow Swertschuk, Mitarbeiter der ersten Unterabteilung in der 4. Abteilung der Dritten Hauptverwaltung (Militäraufklärung) des Volkskommissariats für Staatssicherheit der UdSSR, unterwarf Wallenberg in der Nacht vom 7. zum 8. Februar 1945 dem ersten Verhör.

Am 28. April vernahm ihn der Abteilungsleiter Major Kusmischin, es folgten laut Gefängnisregister Verhöre am 17. Juli und 30. August 1946 in der berüchtigten Moskauer Haftanstalt Lefortowo durch den Offizier Daniil Kopeljanski, der noch lebt, sich aber nicht erinnern mag. Ungar Reményi meint, auch Berija habe Wallenberg vernommen.

"Geführt" wurde der Fall seit Oktober 1946 vom Staatssicherheitsminister Wiktor Abakumow, Stalin wurde direkt rapportiert. Das hat jetzt der Abakumow-Vize Jewgenij Pitowranow preisgegeben und auch, daß Stalin Abakumow anwies: "Warten Sie, halten Sie ihn bereit. Mag sein, er wird uns nützen."

Wozu hätte Stalin den Häftling Wallenberg noch gebrauchen können? Listen von Agenten hatte er nicht bekommen, weil Wallenberg sie offenkundig nicht besaß; verhört wurde er nach den bisher bekannten Unterlagen auffallend selten, im Abstand von Monaten. Als Geisel in Sachen Sonderfrieden fiel er nun aus.

Aber er taugte als Zeuge gegen unzuverlässige Genossen, genauso wie später Noël Field, Delegierter einer US-Hilfsorganisation, in Prag und in Budapest - dort bereitete Reményi, Vize-Hauptabteilungsleiter des ungarischen Staatssicherheitsdienstes, von 1952 an einen Prozeß gegen jüdische Parteifunktionäre vor. Seine sowjetischen "Berater" vermittelten ihm den Eindruck, als Belastungszeuge stünde Raoul Wallenberg zur Verfügung, der in einem Lager als Übersetzer arbeite.

Und bei Bedarf eignete sich Wallenberg auch als Zeuge gegen Berija, er war Mitwisser der Geheimkontakte des obersten Exekutors gen Westen.

Stalin ordnete an, so Vizeminister Pitowranow, für den Häftling Wallenberg die besten Lebensbedingungen zu schaffen. Der wurde wieder zur Lubjanka überstellt, und zwar in das "Kommandanturhaus", wo beinahe Hotelverhältnisse herrschten: hohe, möblierte Zimmer, Essen aus der Kantine der Bewacher, volle Ruhe, ärztliche Aufsicht. Dort befand sich freilich auch ein Raum, in dem Todesurteile vollstreckt wurden.

Am 14. Mai 1947 ließ Stalin sein Votum für einen Staat Israel bekanntgeben. Drei Tage später mahnte Vizeaußenminister Andrej Wyschinski, der blutige Staatsanwalt von 1936/38, die "Liquidierung des Falls" an, wobei offenblieb, ob eine diplomatische oder physische Erledigung gemeint war. Der schwedische Häftling war womöglich den innersowjetischen Widersachern der proisraelischen Politik Stalins hinderlich, für Berija war er sogar gefährlich. Dessen deutscher Kollege Himmler hatte seinen eigenen Konfidenten Langbehn im Oktober 1944 erschießen lassen.

Wallenbergs Festnahme war sofort auch dem General Michail Belkin gemeldet worden, dem Bevollmächtigten des Sowjetgeheimdienstes für Südosteuropa, später mit Sitz in Baden bei Wien (er organisierte auch den Prozeß gegen den ungarischen Außenminister Rajk). Belkin gehörte zu den Männern, die in der Lubjanka-Zentrale "Lipatsch" genannt wurden, zu deutsch: "Fälscher". Diese Fachleute vermochten einen Gefangenen zu allem zu bringen, was gewünscht wurde: ein deutscher Agent, bitte sehr, ein amerikanischer - ebensogut.

Schwieriger war es, einen sowjetischen Agenten zu produzieren. Zu Sudoplatow sagte Belkin: "Wir wollten ihn gewinnen, der Kerl wollte es nicht, so machten wir mit ihm kurzen Prozeß."

Am 11. März 1947 hatte Major Kusmischin zum letztenmal Wallenberg zum Verhör vorführen lassen. Forscher Besymenski fand den Dolmetscher der Vernehmung. Der ehemalige KGB-Offizier, heute Rentner, der seinen Namen nicht preisgeben will, murmelte: "Raoul Wallenberg? Ich habe ihn etwa drei Monate vor seiner Erschießung gesehen." Sein Bericht:

* Der Vernehmer saß hinter seinem Tisch. Etwas schräg gegenüber saß hinter einem eigenen Tischchen ein Mann im dunklen Anzug ohne Schlips. Das Verhör dauerte ungefähr anderthalb Stunden. Es wurden nur einige Angaben aus früheren Verhören überprüft und bestätigt. Die Rede war von irgendwelchen Dokumenten, die bei dem Mann gefunden waren, es ging weiter um die Verbindungen dieses Mannes zu den Deutschen und den Amerikanern.

  • * Der Mann sah ganz munter und gesund aus, war sehr aussagebereit und hatte keine Spuren von Mißhandlungen, die im Lubjanka-Gefängnis ja nichts Außergewöhnliches waren.
  • * Der Name des Häftlings wurde während des Verhörs nicht genannt. Dienstlich las ich West-Zeitungen, die seine Fotos brachten und viel über ihn schrieben, so wurde meine Überzeugung ganz fest, daß es Wallenberg war.
  • * Nach einigen Monaten traf ich einen Mann aus dieser Abteilung. Ich habe ihn gefragt: "Was ist mit dem Mann, dessen Vernehmung ich gedolmetscht habe?" Er sagte: "Weißt du, er wurde erschossen."
  • Eine Bestätigung für Wallenbergs Ende lieferte Wladimir Krjutschkow, der ehemalige KGB-Chef und Putschist gegen Gorbatschow 1991. In engem Kreis - die Teilnehmer sind der Redaktion bekannt - erklärte er:
  • "Wallenberg war Doppelagent. Er hat für uns gearbeitet, aber auch den Kontakt zu den Amerikanern gefunden und sich im Netz seiner Verbindungen verstrickt. Von diesen Verbindungen haben wir erfahren. Darum wurde er liquidiert."


Aus dieser Formulierung läßt sich nicht schließen, daß Wallenberg wirklich ein Spion war, gar einer, der auf zwei Schultern trug. Es klingt mehr nach einer Begründung für Stalins Todesurteil - obwohl seit Mai 1947 offiziell die Todesstrafe abgeschafft war. Im Überlebensfall wäre Wallenberg heute 84 Jahre alt.

Im Moskauer KGB-Archiv aber fand sich der Bericht des Chefs der medizinischen Abteilung des Lubjanka-Gefängnisses, A. L. Smolzow, vom 17. Juli 1947 an Abakumow:

"Hiermit melde ich, daß der Ihnen bekannte Gefangene Wallenberg heute nacht, vermutlich infolge eines Herzinfarkts, plötzlich in seiner Zelle verstorben ist." Smolzow bittet um Anweisung, "wem die Obduktion der Leiche zwecks Feststellung der Todesursache übertragen werden soll".

Diesen Satz findet die Ärztin Raissa Kusmina, einst Untergebene Smolzows - er ist längst tot, die Kusmina lebt in St. Petersburg -, recht sonderbar: Wer in der Lubjanka einen natürlichen Tod erlitt, kam automatisch in die Leichenkammer des Butyrka-Gefängnisses zur Obduktion. Dort hätte sich auch im Fall Wallenberg eine Untersuchung anstellen lassen, die jeden Zweifel ausräumen konnte.

Doch Smolzow schrieb später auf dasselbe Blatt handschriftlich den Vermerk: "Persönlich dem Minister vorgetragen. Befehl, die Leiche ohne Obduktion zu kremieren".

Daraus läßt sich folgern, daß er eines gewaltsamen Todes gestorben ist, Raoul Wallenberg, der in die Annalen als Retter von Tausenden einging, aber mit dem eigenen Leben keine Vorsicht übte.

Der Vernehmer saß hinter seinem Tisch. Etwas schräg gegenüber saß hinter einem eigenen Tischchen ein Mann im dunklen Anzug ohne Schlips. Das Verhör dauerte ungefähr anderthalb Stunden. Es wurden nur einige Angaben aus früheren Verhören überprüft und bestätigt. Die Rede war von irgendwelchen Dokumenten, die bei dem Mann gefunden waren, es ging weiter um die Verbindungen dieses Mannes zu den Deutschen und den Amerikanern. Der Mann sah ganz munter und gesund aus, war sehr aussagebereit und hatte keine Spuren von Mißhandlungen, die im Lubjanka-Gefängnis ja nichts Außergewöhnliches waren. Der Name des Häftlings wurde während des Verhörs nicht genannt. Dienstlich las ich West-Zeitungen, die seine Fotos brachten und viel über ihn schrieben, so wurde meine Überzeugung ganz fest, daß es Wallenberg war. Nach einigen Monaten traf ich einen Mann aus dieser Abteilung. Ich habe ihn gefragt: "Was ist mit dem Mann, dessen Vernehmung ich gedolmetscht habe?" Er sagte: "Weißt du, er wurde erschossen."

* Gemälde von Dombrovsky Szatmary.

 

PDFArtikel als PDF ansehen


Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>