publiziert 07/04/2005 at 13:08 Uhr
Nach dem Ende des "Dritten Reiches" fürchten die Massenmörder um ihr Leben. In Argentinien können sich NS-Schergen wie Eichmann oder Mengele eine neue
Existenz aufbauen. "Mein Kampf" verkauft sich dort bis heute gut.
Zwischen Romanen von Gabriel García Marquez und Sidney Sheldon wird Adolf Hitlers "Mein Kampf" an einem Kiosk in Buenos Aires feilgeboten. "Ich war schon immer ein Fan von Deutschland", sagt Kioskbesitzer
Ubaldo. Und wie ein Beispiel für eine bis heute in Argentinien häufig anzutreffende Faszination für Nazi-Deutschland fügt der 76-Jährige hinzu: "Vor der taktischen Leistung der "Graf Spee" in der
Schlacht vom Rio de la Plata habe ich allen Respekt." Das nach einem Gefecht mit drei britischen Kreuzern manövrierunfähige Panzerschiff wurde von seiner Besatzung am 17. Dezember 1939 vor
Montevideo versenkt. Kapitän Hans Langsdorff nahm sich das Leben und wurde auf dem Deutschen Friedhof in Buenos Aires beigesetzt.
Vage Vorstellung von Deutschland
"Mein Kampf verkauft sich gut", sagt Ubaldo. Der Raubdruck aus einem chilenischen Verlag werde von ganz unterschiedlichen Leuten verlangt, sogar ein Pfarrer habe es vor kurzem erworben. "Nazis
sind das in der Regel keine", glaubt die Historikerin Alicia Benmergui, die Vorträge über den Nationalsozialismus in Erwachsenen- Bildungseinrichtungen hält: "Viele Argentinier sind einfach
begeistert von der Disziplin und dem Patriotismus, die sie dem Deutschland des Dritten Reichs zuschreiben." Abgesehen davon hätten viele Argentinier aber nur eine vage Vorstellung meist aus
Kinofilmen von den Zuständen in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Die Schrecken des Holocausts würden von vielen verdrängt.
In den Schulen werde bisher kaum systematisch die Geschichte des Nationalsozialismus gelehrt, beklagt Marisa Braylan vom Zentrum für Sozialforschung (CES), einer Einrichtung der Jüdischen
Gemeinde in Argentinien. Dabei sei das Interesse durchaus vorhanden. So hätten sich zu einem CES-Seminar zum Thema "Der Nationalsozialismus und sein Einfluss auf Argentinien" mehr als 200
Geschichts- und Politikstudenten eingeschrieben. In anderen Vorlesungen gehört für sie auch "Mein Kampf" zur Pflichtlektüre. "Um eine Idee von der Rassenideologie zu bekommen, die hinter der
Judenverfolgung und dem Antisemitismus steht, sollte jeder Geschichtsstudent das Buch lesen", sagt Benmergui.
Patriotismus ist in dem Einwandererland Argentinien immer noch ein heikles Thema. In der Gesellschaft der "Entwurzelten" ist die Sehnsucht nach nationaler Identität groß. In einem Land, in dem
knapp 85 Prozent der Bevölkerung in zweiter oder dritter Generation von Italienern oder Spaniern abstammen, fühlen sich viele Menschen noch nicht als "Südamerikaner", können sich aber auch nicht
mehr mit Europa identifizieren.
Perons Sympathie für die Achsenmächte
Beim Blick auf Nazi-Deutschland scheinen sich bei vielen Argentiniern die Grenzen zwischen Patriotismus und Nationalsozialismus zu verwischen, zumal Staatspräsident General Juan Domingo Peron offen mit den Achsenmächten Italien und Deutschland sympathisierte. Erst auf Druck der USA hin erklärte
Argentinien 1945 Deutschland den Krieg - als letztes Land der Welt, ohne je eine einzige Kugel abzufeuern. Nach dem Krieg aber fanden dort viele Nazi-Verbrecher Unterschlupf und konnten sich der
Justiz entziehen.
Die argentinische Präsidentengattin Eva Perón reiste 1947 nach Spanien, Italien und in die Schweiz und verschaffte der NS-Fluchthilfeorganisation politische Rückendeckung. Der wichtigste
Fluchtweg aus Europa nach Argentinien lief über Italien, wo die katholische Kirche aktive Fluchthilfe anbot. Eine "Nordroute" brachte über Norwegen und Dänemark vor allem Flugzeug- und
Raketenbauer nach Argentinien. Zwischen 1945 und 1955 sind 30.000 bis 40.000 Deutschstämmige dauerhaft in Argentinien eingewandert. Die meisten waren Wohlstandsflüchtlinge, denn Argentinien war
damals ein reiches Land. Unter ihnen aber auch zahlreiche NS-Funktionäre aus Staat und Partei sowie Soldaten aus Wehrmacht und SS, die den Verfolgungen in der Nachkriegszeit entkommen
wollten.
Der hoch dekorierte Kampfpilot Hans-Ulrich Rudel etwa baute zusammen mit geflohenen oder angeworbenen deutschen Technikern die argentinische Luftwaffe auf. Oder Kurt Tank: Um einer Internierung
zu entgehen, ging der deutsche Flugzeugbauer 1947 mit sämtlichen Konstruktionsplänen der Focke-Wulf-Werke von 1923-45 nach Argentinien und baute dort die Flugzeugindustrie auf. Auch KZ-Kommandant
Joseph Schwammberger war nach 1945 "legal" nach Argentinien ausgewandert. Und bis zu seiner Auslieferung im Sommer 1995 hatte SS-Hauptsturmführer Erich Priebke unbehelligt in dem argentinischen
Andenort Bariloche gelebt. Priebke hatte im Zweiten Weltkrieg die Erschießung von über 300 Zivilisten bei Rom geleitet. Ende der 90er Jahre war er von einem römischen Gericht zu lebenslanger Haft
verurteilt worden.
Asyl für Altnazis
Die bekanntesten Nazi-Verbrecher, die sich unter dem Schutz von Perón eine neue Existenz aufbauen konnten, waren SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann und KZ-Arzt Josef
Mengele. Eichmann wirkte unscheinbar und trat so zurückhaltend auf, dass er nach dem Zusammenbruch des
Hitler-Regimes noch fünf Jahre lang unerkannt in Deutschland leben konnte. Vermutlich 1950 flüchtete er nach Argentinien, wo der israelische Geheimdienst Mossad ihn nach zehn Jahren aufspürte und
entführte. In Israel wurde er vor Gericht gestellt, nach einem international Aufsehen erregenden Prozess wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet.
Als der Dampfer "North King" aus Genua am 20. Juni 1949 im Hafen von Buenos Aires mit rund 3000 europäischen Einwanderern vor Anker ging, war einer der schlimmsten Verbrecher des 20. Jahrhunderts
an Bord. Josef Mengele, der berüchtigte Arzt von Auschwitz, reiste dank eines falschen Passes unerkannt ein. Er
ließ sich unter dem Namen "Helmut Gregor", 38 Jahre alt, katholisch, von Beruf Mechaniker, registrieren. Mengele
führte grausame medizinische Experimente an KZ-Gefangenen durch und schickte mehrere hunderttausend Menschen in den Tod. Seine Karteikarte verschwand in den Archiven der argentinischen
Einwanderungsbehörde und wurde erst vor zwei Jahren zusammen mit Dokumenten über andere führende Kriegsverbrecher gefunden. Bis zu seinem Unfalltod im Jahr 1979 lebte der "Todesengel" unbehelligt
in dem südamerikanischen Land.
Die verbrecherische Vergangenheit der eingewanderten Deutschen wurde erst nach dem Ende der Militärdiktatur zum Thema. Der damalige Präsident Carlos Menem richtete 1997 eine Kommission (Ceana)
zur Aufklärung der Nazi-Aktivitäten in Argentinien ein, ein Jahr später unterzeichnete er ein Abkommen mit Deutschland, Israel und den USA über den Informationsaustausch bei der Suche nach
Kriegsverbrechern. Der Ceana-Kommission gehörte drei Tage lang auch der argentinisch-amerikanische Journalist Uki Goni an, der in seinem Buch "La autentica Odessa" das Netz der Nazi-Schleusungen
nahezu lückenlos dokumentiert hat, dann aber zurücktrat: "Ich hatte den Eindruck, dass die einige Dinge gar nicht so genau wissen wollten".
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Fluchtpunkt für Faschisten
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