Quantcast
Channel: Mémoires de Guerre
Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Mörderische Elite

$
0
0

Der Spiegelpubliziert 01/06/2010 at 07:51 Uhr von Michael Wildt

Mit der Besetzung Polens begannen die Nazis, die von Hitler angedrohte Vernichtung der europäischen Juden in die Tat umzusetzen. Hochqualifizierte Akademiker wurden zu Organisatoren des Holocaust.

Otto Ohlendorf and Franz Six
Zum sechsten Jahrestag seiner Machtübernahme hielt Hitler am 30. Januar 1939 vor dem Reichstag eine Rede. Über zwei Stunden sprach er, und am Schluss stieß der "Führer" eine mörderische Drohung aus: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Tatsächlich war Hitler selbst der Kriegstreiber, um seine rassistische Vision vom "Lebensraum" im Osten zu verwirklichen. Wenige Wochen später marschierte die Wehrmacht unter Bruch des Münchner Abkommens in Prag ein; am 1. September griff Deutschland Polen an, nachdem zuvor die Sowjetunion und das Deutsche Reich mit dem Hitler-Stalin-Pakt Polen unter sich aufgeteilt hatten. Die Drohung gegen die Juden war tödlich ernst gemeint, denn der Krieg bot die Möglichkeit, das antisemitische Projekt, Deutschland und Europa "judenrein" zu machen, ins Werk zu setzen.

Den deutschen Armeen folgten unmittelbar Einsatzgruppen der SS und Polizei, die sowohl die polnische Elite töten sollten als auch die jüdische Minderheit ghettoisieren, vertreiben, erschießen - "völkische Flurbereinigung", wie es Hitler nannte. Ein Großteil der Führer dieser Einsatzkommandos übernahm bezeichnenderweise wenig später leitende Funktionen im neugebildeten Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der Planungszentrale des Holocaust. Der polnische Historiker Bogdan Musial schätzt, dass bis zum Jahresende 1939 im deutschen Herrschaftsbereich weit mehr als 45 000 polnische Zivilisten getötet wurden, darunter etwa 7000 Juden.

Der Einsatz in Polen markierte eine Zäsur. Die Praxis der Einsatzgruppen überstieg bei weitem den Terror, den deren Mitglieder zuvor als Gestapobeamte oder SD-Angehörige in Deutschland und dem seit März 1938 "angeschlossenen" Österreich praktiziert hatten. Die Exekutionen der Einsatzkommandos in Polen im Herbst 1939 ähneln bereits den späteren Massenerschießungen in den besetzten sowjetischen Gebieten. In Polen lernten etliche SS-Führer, die später im RSHA für die "Endlösung der Judenfrage" verantwortlich werden sollten, in "großen Räumen" zu denken und zivilisatorische Schranken zu überschreiten.

Eine Million Menschen wollte Heinrich Himmler in seiner neuen Funktion als "Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums" aus den annektierten westpolnischen Gebieten vertreiben, um Volksdeutsche aus dem Baltikum und anderen sowjetischen Gebieten "heim ins Reich" zu holen und dort anzusiedeln. Obwohl rasch deutlich wurde, dass diese Vorgaben die Transport- und Aufnahmekapazitäten weit überschritten, hielten die SS-Täter unerbittlich an dem Ziel fest, Polen und Juden aus den zu "germanisierenden" Gebieten zu vertreiben. Die Grenzen, an die die Täter stießen, geboten aber nicht Einhalt, sondern forderten im Gegenteil dazu auf, die "Lösung" mit noch radikaleren Mitteln herbeizuzwingen. Diese Männer machten taktische Zugeständnisse, wenn es sich nicht vermeiden ließ, aber am weltanschaulichen Ziel hielten sie unerbittlich, unbedingt fest. "Das Wort unmöglich", forderte Himmler kategorisch, "darf es nicht geben und wird es niemals bei uns geben."

Von den Führungsangehörigen des Reichssicherheitshauptamtes hatten deutlich mehr als drei Viertel das Abitur absolviert, zwei Drittel hatten studiert, und nahezu ein Drittel insgesamt, das entspricht knapp der Hälfte aller Studierten, hatte zudem einen Doktorgrad erworben. Mehr als drei Viertel von ihnen entstammten den Jahrgängen 1900 und jünger, gehörten also jener Kriegsjugendgeneration an, die den Ersten Weltkrieg an der "Heimatfront" erlebt hatte, aber selbst nicht mehr eingezogen, geschweige denn an die Front gekommen war. Das Führungskorps des RSHA setzte sich keineswegs aus gescheiterten Existenzen zusammen, es entstammte nicht den sozialen Rändern der Gesellschaft, sondern war Teil der bürgerlichen, akademisch ausgebildeten Elite.

Es waren Männer wie der promovierte Jurist Werner Best, Jahrgang 1903, der dozierte, solange die Polizei den Willen der Führung vollziehe, handele sie rechtmäßig.

Es waren studierte Volkswirte wie Otto Ohlendorf, Jahrgang 1907, dessen Karriere am Institut für Weltwirtschaft in Kiel begonnen hatte. Als Leiter der Einsatzgruppe D im Süden der besetzten sowjetischen Gebiete war er für die Ermordung von etwa 90 000 Menschen verantwortlich.

Und es waren hemmungslose Intellektuelle wie Franz Alfred Six, Jahrgang 1909, habilitierter Zeitungswissenschaftler. Als SS-Standartenführer und Leiter des "Vorkommandos Moskau" in der Einsatzgruppe B skizzierte er NS-Theorieschriften "Umrisse des neuen Europa".

Führerschaft, Tat, Idee - das sind die Elemente, um die das politische Denken dieser jungen Männer kreiste. In der Überlegenheit und dem Erfolg der Tat zeigte und bewies sich der Führer. Allein der Erfolg zählte und rechtfertigte zugleich das Handeln wie die Idee. Führer entwarfen nicht nur politische Konzepte, sie formulierten auch Erlasse und erteilten ebenso die Befehle vor Ort. Sie sorgten dafür, dass die Praxis der "Idee" entsprach. Politik zielte immer auf Unbedingtheit, auf das Ganze, war weder einer regulierenden Norm noch irgendeinem Moralgesetz unterworfen.

Der militärische Sieg über Belgien, die Niederlande und Frankreich im Frühjahr 1940 ließ einen alten antisemitischen Plan wieder aufleben: die Deportation der europäischen Juden nach Afrika. Antisemiten wie Paul de Lagarde hatten diese Idee seit Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet. Selbst Polen oder Frankreich zogen in den dreißiger Jahren die Deportation ihrer jüdischen Staatsbürger nach Madagaskar in Erwägung. Die polnische Regierung entsandte 1937 sogar eine Kommission nach Madagaskar, um die Bedingungen für eine Deportation der Juden aus Polen zu prüfen.

Am 15. August 1940 ließ Reinhard Heydrich, Chef des RSHA, an das Auswärtige Amt zwei Exemplare einer ausführlichen Broschüre zum "Madagaskar-Projekt" schicken. Detailliert entwickelte der RSHA-Plan, wie vier Millionen europäische Juden nach Madagaskar deportiert und dort in einem Polizeistaat unter der Leitung eines deutschen Polizeichefs vegetieren sollten. Mit 120 Schiffen könnten täglich etwa 3000 Juden transportiert werden, so dass innerhalb von vier Jahren, so die Rechnung des RSHA, das "Judenproblem" gelöst sein sollte.

Der Plan war von vornherein wirklichkeitsfremd, denn solange Großbritannien unbesiegt über die Ozeane herrschte, war an einen Transport von Millionen von Menschen mit Schiffen nicht zu denken. Dennoch offenbaren solche Überlegungen, wie ernsthaft die NS-Führung das Ziel eines "judenreinen" Europa verfolgte. Außerdem wurde mit dem Madagaskar-Plan deutlich, dass das Regime das Massensterben einkalkulierte, denn den nationalsozialistischen Planern war völlig klar, dass diese Insel nicht über genügend Ressourcen verfügte, um Millionen Menschen aufnehmen zu können.

Mit dem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion 1941 offenbarte das NS-Regime endgültig seinen Vernichtungscharakter. Was Hitler mit diesem Krieg beabsichtigte, schrieb er unverhohlen in seinen Anweisungen Anfang März 1941 an den Chef des Wehrmachtführungsstabes, Alfred Jodl: "Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen … Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger 'Unterdrücker' des Volkes, muss beseitigt werden."

Gegen die sowjetische Zivilbevölkerung entwickelte die deutsche Führung einen verbrecherischen Hungerplan. Für die Angriffsarmee aus drei Millionen Soldaten lautete die Anweisung, die deutschen Soldaten sollten sich aus dem Land selbst ernähren. Den Verantwortlichen war bewusst, wie eine Staatssekretärsbesprechung im Mai 1941 mitleidslos im Protokoll festhielt, dass "zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird".

Heinrich Himmler und die SS erhielten "Sonderaufgaben im Auftrage des Führers". Neben den berüchtigten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD wurden zahlreiche weitere Einheiten der Ordnungspolizei und Waffen-SS aufgestellt, die Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) unterstanden, die die Mordeinsätze anordneten und koordinierten. Die Einsatzkommandos hätten, so Reinhard Heydrich in einem Schreiben vom 2. Juli 1941 an die HSSPF, "alle diejenigen Fahndungs- und Exekutionsmaßnahmen zu treffen, die zur politischen Befriedung der besetzten Gebiete erforderlich sind". Die Kommandos hatten demnach weitgehend freie Hand, um jeweils selbständig vor Ort Entscheidungen zu treffen. Auf einen Befehlsnotstand, wie es SS-Täter nach dem Krieg vor Gericht taten, konnten sich diese Männer nicht berufen.

Konkret gab Heydrich an, dass folgende Personengruppen zu exekutieren seien: "alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.)".

Damit umriss Heydrich recht präzise den Feind, den die Einsatzkommandos vernichten sollten: den "jüdischen Bolschewisten". Die Juden, pauschal zu Trägern des "Bolschewismus" erklärt, waren die Feinde per se, die die "Sicherheit" bedrohten und die letztlich nur durch ihre Vernichtung wirksam bekämpft werden konnten.

In den ersten Wochen richteten sich die Mordaktionen vornehmlich gegen jüdische Männer, wobei es auch zu schrecklichen Morden an Frauen und Kindern wie in Bialystok kam, wo Angehörige eines Polizeibataillons am 27. Juni 1941 etwa 2000 Juden in die Synagoge trieben und diese anzündeten. Im Laufe des Sommers weitete sich die Vernichtung auf ganze jüdische Gemeinden, einschließlich der Frauen, Kinder und alten Menschen, aus. Im ukrainischen Kamenez-Podolsk ermordeten Einheiten des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln Ende August über 26 000 Juden, Ende September wurden an nur zwei Tagen in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew mehr als 33 000 Menschen durch SS- und Polizeieinheiten erschossen. Pioniere der Wehrmacht sprengten anschließend die Ränder der Schlucht, um die Leichen unter dem Schutt zu begraben. Ende 1941 lebte im Baltikum nur noch ein Bruchteil der einstmals 230 000 litauischen und 70 000 lettischen Juden. Bis März 1942 ermordeten SS und Polizei, aber auch die Wehrmacht nahezu 600 000 Menschen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.

In der Logik der Mörder entledigte man sich damit der "überzähligen Esser" und schuf "Sicherheit" in den schwer zu kontrollierenden Orten auf dem Land, während in den Ghettos der größeren Städte die dort zusammengepferchten, als arbeitsfähig eingestuften jüdischen Menschen vorerst vom Tod ausgenommen wurden.

Mittlerweile drängten auch in Deutschland die NSDAP-Gauleiter auf eine rasche Deportation der Juden, damit die freiwerdenden Wohnungen ausgebombten Volksgenossen zur Verfügung gestellt werden könnten.

Auch aus den annektierten westpolnischen Gebieten kamen Mordinitiativen. 140 000 Menschen waren im Ghetto Lodz zusammengepfercht. Die katastrophale Ernährung und Hygiene ließen Epidemien ausbrechen. Epidemien dienten den Nazis als Vorwand, gegen die Ghettobewohner vorzugehen. Dass die Täter wie selbstverständlich Mord als "Lösung" betrachteten und die mit Absicht ausgeführte Tötung sogar als "human" gegenüber dem Sterben im Ghetto, zeigt ein Telegramm, das der regionale SD-Chef und SS-Obersturmbannführer Rolf-Heinz Höppner am 16. Juli 1941 an den Leiter des RSHA-Referats "Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten", Adolf Eichmann, schrieb: Es bestehe im kommenden Winter die Gefahr, "dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen".

In diesen Septembertagen fiel die Entscheidung Hitlers, noch vor Kriegsende mit der Deportation der deutschen Juden zu beginnen. Am 18. September teilte Himmler dem Gauleiter des Warthelandes, Arthur Greiser, einem besonders fanatischen Rassisten, mit, der "Führer" wünsche, dass "möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit" werde. Möglichst noch im Jahr 1941 sollten die Juden Deutschlands, Österreichs und Tschechiens vorübergehend in das Ghetto Lodz deportiert werden, um sie dann im Frühjahr 1942 "weiter nach dem Osten abzuschieben". Am 15., 16., und 18. Oktober 1941 verließen die ersten Deportationszüge Wien, Prag und Berlin in Richtung Lodz, später Riga, Minsk und Kaunas.

Obwohl damit noch nicht ihre Ermordung beschlossen war, so war doch eine entscheidende Grenze überschritten. Von diesem Punkt aus waren alle Schritte möglich - auch die systematische Vernichtung.

Die planmäßige Ermordung mit Gas, nachdem schon zuvor kranke und behinderte Menschen in der sogenannten Euthanasie-Aktion mittels Kohlenmonoxid getötet worden waren, begann Anfang Dezember 1941 in Chelmno nahe Lodz. Dort hatte ein SS-Kommando ein Tötungszentrum mit abgedichteten Lastwagen eingerichtet, in deren Innenraum die Abgase des Motors geleitet wurden, nachdem NS-Gauleiter Greiser im Oktober bei Himmler um Genehmigung gebeten hatte, 100 000 als arbeitsunfähig eingestufte Juden töten zu lassen. Mitte Oktober hatte Himmler dem SS- und Polizeiführer in Lublin, Odilo Globocnik, allem Anschein nach den Auftrag erteilt, ein regionales Vernichtungslager in Belzec zu errichten. Im März 1942 folgte der Bau des Vernichtungslagers Sobibór, dann Treblinka. Ebenfalls im März setzten die "Räumungen" der jüdischen Ghettos in Polen ein, die Menschen wurden mit Zügen in die Vernichtungslager gefahren, um dort sofort in den Gaskammern ermordet zu werden.

Am 20. Januar 1942 fand in der einstigen Villa des Industriellen Ernst Marlier, nun Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, jenes Treffen statt, das als "Wannsee-Konferenz" in die Geschichte eingehen sollte. Daran nahmen führende NS- und SS-Funktionäre im Range Heydrichs aus verschiedenen Ministerien und SS-Institutionen teil. Dabei wurde nicht, wie früher angenommen, die "Endlösung" beschlossen, die ja bereits im Gange war, als vielmehr, wie das Protokoll es ausdrückte, die "Parallelisierung der Linienführung" vereinbart, das heißt man verständigte sich auf Modalitäten des Massenmordes. Über elf Millionen Juden sollten im Zuge der "Endlösung der europäischen Judenfrage" getötet werden. Die detaillierte Länderliste führte auch Staaten wie Irland, Portugal, Spanien, England, Schweden, Finnland, die Schweiz und die Türkei auf, die gar nicht unter deutscher Gewalt standen, was offenbart, wie systematisch, umfassend und unbedingt diese Täter dachten.

Seit dem Frühjahr 1941 hatte der geschäftsführende Ernährungsminister Herbert Backe bei Hitler immer wieder auf die Lebensmittelkrise im Deutschen Reich aufmerksam gemacht.

Aus dem Generalgouvernement sollten noch mehr Nahrungsmittel als bisher ins Reich geschafft werden, indem dort die Rationen weiter gesenkt würden. Als die deutsche Besatzungsverwaltung einwandte, dass die Rationen für die Polen ohnehin schon viel zu gering seien, erwiderte Backe, dass es doch im Generalgouvernement noch 3,5 Millionen Juden gebe.

Anfang Juli 1942 besprach Backe sei-ne Mordpläne mit Hitler und Göring, ebenso fanden Unterredungen Hitlers mit Himmler statt. Der "Reichsführer SS" ordnete am 19. Juli nach einem Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz an, dass es bis zum Jahresende keine Juden mehr im Generalgouvernement geben dürfe. Allein im Vernichtungslager Treblinka wurden binnen weniger Monate über 253 000 Menschen aus dem Ghetto Warschau mit Gas erstickt, darunter alle Kinder, die den Deutschen als besonders ungeeignet für die Zwangsarbeit erschienen. Weit über zwei Millionen Menschen fielen in diesen furchtbaren Monaten von Juli bis November 1942 dem systematischen Massenmord zum Opfer.

Aus Westeuropa setzten die Deportationen im März 1942 mit dem ersten Zug ein, der mit über tausend jüdischen Menschen das Lager Compiègne bei Paris in Richtung Auschwitz verließ. Die französische Polizei beteiligte sich dabei aktiv an der Verhaftung von Juden. Von den etwa 300 000 Juden, die sich 1940 in Frankreich aufhielten, zu einem großen Teil Menschen aus Deutschland und anderen Ländern Europas, die sich in Frankreich vor den Nazis in Sicherheit bringen wollten, wurden annähernd 75 000 deportiert und ermordet. Viele wurden noch ergriffen, als die Wehrmacht im November 1942 nach der Landung der Alliierten in Westafrika auch in die bislang unbesetzte Zone einmarschierte.

In den Niederlanden waren es die Lager Westerbork und Vught, aus denen die holländischen Juden in den Tod deportiert wurden. Von den 107 000 Anfang 1941 deportierten Juden überlebten nicht mehr als 5200. Aus Belgien, wo zahlreiche Juden untertauchen konnten, wurden etwa 25 000 Menschen deportiert; in Norwegen gelang es vielen, rechtzeitig nach Schweden zu flüchten, so dass dort nur ein Teil der jüdischen Gemeinde den Nationalsozialisten in die Hände fiel. Und in Dänemark konnten die Juden auf die Solidarität und den Widerstandswillen ihrer nichtjüdischen Nachbarn bauen, denn kurz vor der geplanten Deportation im Oktober 1943 gelang es den meisten, mit Booten nach Schweden zu entkommen.

Im Januar 1945 hatte die Rote Armee die deutsche Reichsgrenze erreicht und setzte zum Angriff an. Die SS löste daraufhin die Konzentrationslager auf und brachte die Gefangenen in entsetzlichen Fußmärschen in westlich gelegene Lager. Hunderttausende waren unterwegs durch das vom Krieg gezeichnete Deutschland. Die-se "Todesmärsche" erfolgten bei Eis und Schnee, ohne ausreichende Verpflegung, oftmals ohne Pause, und führten in aller Öffentlichkeit durch die Ortschaften. Zehntausende, die nicht mithalten konnten, wurden von den SS-Wachmannschaften erschossen oder starben unterwegs an Erschöpfung.

Am 27. Januar befreite die Rote Armee die überlebenden Häftlinge in Auschwitz. Über die letzten Tage, als die SS das Lager verlassen hatte, notierte der Schriftsteller Primo Levi, der 1944 aus Italien nach Auschwitz deportiert worden war und im Krankenrevier überlebte: "24. Januar. Freiheit. Die Bresche im Stacheldraht gab uns einen konkreten Begriff davon. Wenn man es sich richtig überlegte, so bedeutete das: keine Deutschen mehr, keine Selektionen, keine Arbeit, keine Schläge, keine Appelle und später vielleicht die Heimkehr. Aber es kostete Anstrengung, sich davon zu überzeugen, und keiner hatte Zeit, es zu genießen. Alles ringsum war Zerstörung und Tod. Der Leichenhaufen vor unserem Fenster wuchs jetzt über die Grabenränder hinaus."

Michael Wildt

Wildt MichaelDer habilitierte Historiker veröffentlichte 2002 die Studie "Generation des Unbedingten" über das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes. Wildt, 56, lehrt an der Berliner Humboldt-Universität deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus.














PDFArtikel als PDF ansehen


Viewing all articles
Browse latest Browse all 30791

Trending Articles