publiziert 26/04/2013 at 10:00 Uhr von Hans Ulrich Gumbrecht
Seit langem glauben Tierfreunde, die Moral auf ihrer Seite zu haben - und diese Überzeugung ist in unserer Gegenwart der ökologischen Sorgen und Werte nur intensiver geworden. Gibt es Gründe
für mehr Ambivalenz?
Gegen Tierfreunde habe ich ein Vorurteil. Der Begriff war für mich schon immer gefärbt von Assoziationen und Bildern, die abstossend und manchmal furchterregend wirkten, oder auch auf banale
Weise grotesk. Etwa von einer einsamen alten Frau, die den in seinen Käfig gesperrten Kanarienvogel beim Namen nennt (“Hansi” im Zweifelsfall) und nur zu ihm noch spricht, um jeden Ton, den er
von sich gibt, und auch sein Schweigen für eine Antwort zu nehmen. Sie schreibt ihm Dankbarkeit zu, Lebensfreude zum Beispiel, vielleicht sogar so etwas wie Verschmitztheit und Charme — vor allem
aber grenzenloses Einverständnis. Nichts ist dagegen einzuwenden, im Gegenteil, wenn es der alten Frau denn hilft, ihr Leben einigermaßen gut gelaunt zuende zu bringen. Ungeheuer aber sieht diese
im wörtlichen Sinn grenzenlose Vermenschlichung aus, wenn man sich überlegt, dass in ihr, unbelichtet sozusagen, auch ein weniger unschuldiger Traum vom menschlichen Zusammenleben steckt, wo die
anderen – schweigend – immer nur die Bestätigung eigener Gefühle und Ansichten verkörpern sollen.
Die zweite Folge von Tierfreunde-Bildern setzt in meinem Kopf mit der Erinnerung an ein Bundesligaspiel der siebziger Jahre im Gelsenkirchener Parkstadion ein und mit den Polizei-Schäferhunden,
deren Schnauzen allzu leidenschaftliche Fans davor abschrecken sollten, das Spielfeld zu stürmen. Wenn sie bellten, dann stiegen aus diesem Schnauzen kleine Wolken von Schäferhund-Atem auf, und
ich dachte an den sarkastisch-resignierten Satz, den ich einmal von einem Freund gehört hatte und nie mehr vergessen kann: “German shepherds are wonderful with the blind — and terrible with
Jews.” Da ist wieder dasselbe Problem, nun in seiner erschreckenden Version, von der grenzenlosen Projektion eigener Werte und eigener Erwartungen auf Tiere. Was man seit jeher in Schäferhunde
hineingelegt hatte, Disziplin und Treue, Aggression und Gnadenlosigkeit, waren ja tatsächlich Grundwerte des Nationalsozialismus, und so gehört die Schäferhündin Blondie, die Bormann seinem
Führer Hitler 1934 geschenkt hatte, mehr als nur ein Attribut zu dieser Gestalt. Auf dem Internet sind von Eva
Braun aufgenommene Privatfilme zugänglich, welche die befremdliche Wärme und Zärtlichkeit vergegenwärtigen, die Hitler seinem liebsten Hund angedeihen ließ. So trug der erste von vier Welpen, die Blondie warf, denselben Namen “Wolf,”
mit dem sich Hitlers Freunde und Vertraute an ihn wandten, und nur um auszuschließen, dass sie in die Hände der
sowjetischen Eroberer fiele oder von hungernden Deutschen geschlachtet würde, brachte es der Besitzer über sich, sie am 29. April, dem Tag seines eigenen und des Selbstmords von Eva Braun, mit
einer Zyankalikapsel töten zu lassen.
Gegen das, was man “Tierliebe” nennt, spricht dies alles so wenig wie Hitlers Essgewohnheiten gegen den
Vegetarismus,. Aber umgekehrt wirkt es doch erschreckend plausibel, dass ein absoluten Gehorsam voraussetzender und jeden Widerspruch ausschließender Diktator eine größere Nähe und Bindung zu
diesem Tier fand als vielleicht zu irgendeinem Menschen im Lauf seines glücklicherweise eher kurzen Lebens. Mir fehlt die zoologische Kompetenz und vor allem die alltägliche Vertrautheit mit
Tieren, um all diese Vorurteile zu einem gerechten Urteil werden zu lassen – oder aus guten Gründen auszuräumen. Zur Entdeckung ihres persönlichen Ursprungs bräuchte ich die Hilfe eines
Psychoanalytikers, und ohne ihn weiß ich allein, dass mir die Angst vor Tieren und die Ungelenkigkeit im Umgang mit ihnen schon als Kind peinlich waren, weshalb ich in der Sexta des Gymnasiums
freiwillige die Aufgabe übernahm, im Auftrag des Biologielehrers ein grünliches Monatsheftchen mit dem Titel “Der kleine Tierfreund” an meine Mitschüler zum Preis von dreißig Pfennigen zu
verteilen.
Erst in den vergangenen Jahren ist die alte Peinlichkeit zu einem intellektuellen Insuffizienzgefühl geworden – seit nämlich in einer gewandelten philosophischen Grundstimmung ein Bezug auf Tiere
mit systematischer Absicht geläufig wurde, so geläufig, dass er nun fast eine Verpflichtung ist. Es geht um mehr als nur die in einer Zeit sich schärfenden ökologischen Bewusstseins politisch
korrekte Verpflichtung, traditionelle Prämissen über einen hierarchisch übergeordneten Status des Menschen auf diesem Planeten oder gar im Universum aus vielfältigen Perspektiven zu überdenken —
und zu lockern. In der Primatenforschung finden natürlich alle Beobachtungen und Thesen politisch korrekten Applaus, welche Anlass geben, die traditionell unterstellte Distanz zwischen
Beschreibungen des menschlichen Bewusstseins und Beschreibungen seiner Primaten-Äquivalente zu reduzieren. Doch dabei bleibt ja – anthropozentrisch genug – impliziert, dass Tiere jedenfalls “so
etwas wie” ein Bewusstsein haben. Die Struktur solcher Erwartungen verändert dann erst ein Buch wie Julia Fischers im vergangenen Jahr erschienene “Affengesellschaft,” das auf der Grundlage
langjähriger Feldforschung zeigt, wie Funktionen oder wenigstens Teilfunktionen bestimmter menschlicher Bewusstseinsleistungen unter Primaten durch komplexe (und den Menschen nicht zugängliche)
Muster von sozialem Verhalten abgedeckt werden .
Erst mit dieser Verschiebung des Blickwinkels setzt eine De-Anthropozentrisierung ein, meine ich, durch welche die bisher existierende Kontinuität zwischen Kanarien-Müttern oder
Schäferhund-Vätern auf der einen und Verhaltensforschung auf der anderen Seite definitiv durchbrochen wird. Allein hinter dem Vorzeichen von Diskontinuität werden die Grenzen der dem Menschen
durch anatomische und physiologische Voraussetzungen gegebenen Möglichkeiten und die Frage nach der bloßen Vorstellbarkeit solcher funktionalen Äquivalente zu seriösen und schwierigen Themen,
während die einem bestimmten Typ von Tierfreund so lieben Sätze von der Überlegenheit der Tiere gegenüber den Menschen immer nur sagen wollen, dass Tiere “bessere Menschen” seien – nach den auf
sie projizierten normativen Ansprüchen ihrer Besitzer jedenfalls. Als dieser traditionellen Position geometrisch entgegengesetzt verstehe auch den in Princeton lehrenden Peter Singer, der “animal
rights” nicht einfordert, weil er unterstellt, dass Tiere den Menschen so ähnlich sind, sondern gerade weil wir eine unüberbrückbare Verschiedenheit zwischen ihnen nicht ausschließen können. Ob
und wie ein Tier beim Schlachten “leidet,” werden wir nie wissen, und gerade deshalb, meint Singer, brauchen wir “animal rights.”
In den Zusammenhang jener Perspektivenverschiebung gehört auch Robert Musils berühmte Formulierung von der “Intelligenz eines Rennpferds,” die man, meine ich, über Jahrzehnte als ironisch
missverstanden hat. Sie wiederum kann zu der Frage führen, ob nicht in jene Beobachtungen, welche zu dem vor einem halben Jahrhundert so beliebten (und heute nur noch zögernd verwandten) Begriff
von den “kollektiven Handlungen” geführt haben, eine dem Bewusstsein nicht zugängliche Form von Koordinations-Intelligenz eingeht. Adam Smith, der schottische Aufklärer und Begründer eines
Diskurses über den Kapitalismus, lenkte einmal den Blick seiner Leser auf nebeneinander rennende Hunde, deren Bewegungsanpassung durch kein Training und keinen Drill je von einem Menschen zu
erreichen wäre. Und in noch höherem Nass gilt für Vogelschwärme.
Schließlich wendet eine Spekulation des kanadischen Philosophen Ian Hacking die neue Faszination der Tiere ganz auf den Menschen zurück. Hacking setzt die zum banalen Bildungswissen gehörende
These, dass am Anfang des engen Kontakts zu den sogenannten “Haustieren” Interessen an ihrer potentiellen Nützlichkeit gestanden sein müssten (Hunde können dem Schutz der Menschen, Bienen ihrer
Ernährung dienen) einer neuen Skepsis aus. Wäre es nicht denkbar, dass solchen von früher Rationalität gestalteten Beziehungen eine Freude — vielleicht sogar eine wechselseitige Freude – an der
Wärme der Körper oder an jenen verschiedenen, nicht unter praktische Funktionen zu subsumierenden Verhaltensformen vorausgegangen sein könnten, für die wir das Wort “Spiel” verwenden? Diese Frage
weckt in meiner Vorstellung ein Bild vom Leben des frühen Homo sapiens, der nur wenige wache Stunden des Tages für Aufgaben des Überlebens gebraucht haben soll, während der größere Teil seiner
Zeit frei blieb für eine von Augenblick zu Augenblick immer wieder erfüllbare Nähe zur unbelebten und zur belebten physischen Umwelt, für eine Nähe, mit der uns keine Begriffe und Erinnerungen
mehr verbinden und wohl je verbunden haben. Von dort kommen die Sehnsucht und der Traum, wie ein Tier zu sein, zu fliegen etwa wie ein Vogel, ohne Gedanken an ein Ziel und mit dem Wind in den
Flügeln.
Vielleicht ist eine Ahnung von diesem Bild, eine Ahnung, dass es möglich sein müsste, in Freiheit ein Teil der Umwelt zu sein, vielleicht ist eine solche Ahnung der unsichtbare Urgrund aller
Utopien in der menschlichen Kultur, eine Ahnung an die wir uns gerade heute gewiss nicht zufällig wieder annähern, in einer Gegenwart, wo selbst die reichlich zur Verfügung stehenden Stunden der
Freizeit blockiert sind von Plänen und Absichten, die uns mobil halten und weder zum ersehnten Ziel führen noch Glück stiften.
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Adolf Hitler und andere Tierfreunde
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