70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nähert sich die Entschädigungspolitik ihrem Abschluss. Ihre Geschichte verrät viel über unseren Umgang mit den NS-Verbrechen.
Der berühmte Schriftzug "Arbeit macht frei" über dem Eingang zum KZ Auschwitz. Vor 70 Jahren befreite die russische Armee hier zahlreiche Gefangene
"Von diesem Moment an war nichts mehr wie vorher", verkündet derzeit eine elegant gekleidete 80-jährige Dame auf Plakatwänden in Berlin. Im Hintergrund ist die historische Aufnahme eines brennenden Bauernhauses zu sehen: "Wir hatten kein Zuhause und keine Zukunft." Die Bildmontage zeigt Sinaida Petrowna Lewanez aus Weißrussland. Auch die Porträts fünf weiterer hochbetagter Frauen und Männer aus der Ukraine, aus Weißrussland und Russland hat die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) für ihre Plakatkampagne "Ich lebe noch!" vor eindrucksvolle Gewaltszenen aus dem Zweiten Weltkrieg montiert, um darauf aufmerksam zu machen, dass in Osteuropa noch viele NS-Opfer leben, meist unter schwierigsten Bedingungen.
In diesem Hilfsappell an die deutsche Zivilgesellschaft spiegelt sich die lange Geschichte der sogenannten Wiedergutmachungspolitik. Der Blick auf die NS-Verbrechen hat sich in ihrem Verlauf mehrfach gewandelt, und damit auch der Blick auf die Täter und Opfer. 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 ist es Zeit für eine Bilanz: Wie sind die Deutschen umgegangen mit den Opfern der von ihnen verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Unmittelbar nach dem Kriegsende im Mai 1945 war dieser Begriff noch nicht gebräuchlich. Man unterschied im Westen Deutschlands zunächst zwischen "allgemeinen" Kriegsgräueln und spezifischen NS-Verbrechen. Damit war eine Trennlinie gezogen zwischen dem vermeintlichen "Normalkrieg", den die Wehrmacht geführt hatte, und den nationalsozialistischen Gewaltexzessen, die man der SS zurechnete und zu denen man in erster Linie die Vernichtung der Juden zählte. Auf der mentalen Karte, die so entstand, bildeten die Schrecken des Weltkriegs eine weit ausgedehnte schwarze Fläche, auf der die NS-Verbrechen nur kleine rote Flecken darstellten. Die Verantwortung für die nationalsozialistischen Gewalttaten konnte damit auf einen engen Personenkreis beschränkt werden. Zugleich betrachtete man viele Aspekte der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung als zwar hässliche, aber letztlich "normale" Begleiterscheinungen des Krieges. Erst im Verlauf der folgenden Jahrzehnte wurde die Gewaltlandschaft des Zweiten Weltkriegs allmählich umgefärbt: Mittlerweile erscheint sie in leuchtendem Rot.
Die Plakatkampagne der Stiftung EVZ steht am vorläufigen Ende dieser Entwicklung. Bei den Bildmotiven wird nicht mehr unterschieden zwischen Deportationen, zerstörten Dörfern, Zwangsarbeit und Todeslagern – alle osteuropäischen Kriegsopfer sind hier auch NS-Opfer. Gefordert wird zudem nicht länger deren materielle oder symbolische Entschädigung durch den Staat – vielmehr appelliert die Kampagne an die Zivilgesellschaft und wirbt Spendengelder für soziale und medizinische Hilfsprojekte ein. Damit hat auch die alte Debatte um die Wiedergutmachung ein neues und vermutlich letztes Stadium erreicht: Die materielle und symbolische Entschädigung von NS-Opfern wird von der karitativen Hilfe für die letzten Überlebenden abgelöst.
Als die alliierten Besatzungsmächte und westdeutsche Politiker in den später vierziger Jahren das Projekt der Wiedergutmachung starteten, ging es ihnen in erster Linie darum, deutsche Opfer der rassischen, politischen und religiösen Verfolgung nach 1933 zu entschädigen und zu rehabilitieren. Die Ansprüche ausländischer NS-Opfer galten als abgedeckt durch die Reparationen, die Deutschland an die jeweiligen Staaten zahlen musste. De facto aber blieb deren Entschädigung aus: Angesichts der unermesslichen Kriegszerstörungen wurde nirgendwo Geld an NS-Opfer ausgezahlt – zumal die Reparationsleistungen nicht eben hoch waren. Im Klima des aufziehenden Kalten Krieges waren die westlichen Alliierten an der baldigen ökonomischen Stabilisierung Westdeutschland interessiert. Die Bundesrepublik als neuer Bündnispartner kam daher bei den Reparationszahlungen glimpflich davon. Im Londoner Schuldenabkommen von 1953 schließlich wurde zusammen mit den Reparationen auch die Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter, die insbesondere die Niederlande gefordert hatten, bis zum Abschluss eines Friedensvertrages auf Eis gelegt.
Einen Sonderfall bildete das Abkommen, das die Bundesrepublik 1952 mit Israel und der Jewish Claims Conference schloss: Es sah Leistungen in Höhe von 3,45 Milliarden D-Mark vor, zu zahlen über mehrere Jahre. Die Gelder dienten vor allem dem Aufbau des Staates Israel sowie der Hilfe für Not leidende jüdische Überlebende in aller Welt.
Gleichzeitig begann man in Deutschland, eine gesetzliche Regelung für individuelle Entschädigungen zu entwickeln. Das Bundesentschädigungsgesetz, das daraus 1956 hervorging, war allerdings grundsätzlich auf NS-Opfer beschränkt, die in einem Bezug zu Deutschland gestanden hatten. Ausnahmen erfolgten lediglich zugunsten einiger jüdischer Verfolgter aus Osteuropa, die innerhalb bestimmter Fristen in die Bundesrepublik gekommen waren. Die Jewish Claims Conference rannte jahrzehntelang vergeblich gegen diese Beschränkung an. Etwas mehr Erfolg hatten zwölf westliche Staaten, die Ende der fünfziger Jahre gemeinsam an die Bundesrepublik herantraten. Man einigte sich auf sogenannte Globalabkommen, um keine individuellen Ansprüche erfüllen zu müssen. Später ergänzte man dies durch einige als "indirekte Wiedergutmachung" deklarierte zinsgünstige Kredite an Polen und Jugoslawien. Insgesamt galt jedoch bis zum Ende des Kalten Krieges, dass NS-Opfer hinter dem Eisernen Vorhang von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen blieben.
Die "vergessenen Opfer"
Die DDR leistete, anders als die Bundesrepublik, umfangreiche Kriegsreparationen, vor allem an die Sowjetunion und Polen. Dafür beschränkten sich ihre Entschädigungen weitgehend auf eine Form gehobener Sozialfürsorge für auf ihrem Territorium lebende "Opfer des Faschismus". Kommunisten standen dabei an erster Stelle.
In der Bundesrepublik richtete sich die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die jüdischen Schicksale. In den fünfziger und sechziger Jahren erhielten durch das Bundesentschädigungsgesetz etwa 360.000 NS-Opfer staatliche Renten und rund 650.000 weitere NS-Opfer Einmalzahlungen; 80 Prozent von ihnen waren Juden, die meisten von ihnen stammten aus Deutschland. Die übrigen 20 Prozent verteilten sich auf andere aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen Verfolgte. Gruppen wie die Sinti und Roma, Kommunisten oder Zwangssterilisierte hatten allerdings mitunter erhebliche Schwierigkeiten, ihre Ansprüche geltend zu machen.
Die anerkannten Renten laufen bis zum heutigen Tag weiter. Auf Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz entfallen daher etwa 47 Milliarden der insgesamt 71 Milliarden Euro, die der deutsche Staat bis Ende 2013 an Entschädigungsleistungen ausgegeben hat. Diese Summe sollte angesichts der Präzedenzlosigkeit des Vorgangs nicht kleingeredet werden. Dennoch verlieren die über 70 Jahre verteilten Zahlungen an Glanz, wenn man ihnen etwa die 35 Milliarden Euro gegenüberhält, die das von der großen Koalition beschlossene Rentenpaket allein in der laufenden Legislaturperiode kosten dürfte. Angesichts des Umstandes, dass die zumeist im Ausland lebenden NS-Opfer kein relevantes Wählerpotenzial darstellen, war es jedoch außerordentlich schwierig, Entschädigungsleistungen überhaupt durchzusetzen.
Seit Ende der sechziger Jahre konnten keine neuen Anträge mehr gestellt werden; in der Bundesrepublik rief man das "Ende der Nachkriegszeit" aus, und bald darauf galt auch die Wiedergutmachung als ein erfolgreich abgeschlossenes Werk, bei dem es nur noch um die regelmäßige Auszahlung der bereits zuerkannten Renten ginge. Doch das währte nicht lange: Mitte der Achtziger brach sich fundamentale Kritik an dieser Praxis Bahn. Zornige junge Deutsche kritisierten sie damals als Akt einer "zweiten Verfolgung" und lenkten das Augenmerk auf "vergessene Opfer": auf Homosexuelle und Zwangssterilisierte, auf Deserteure und auf Sinti und Roma, wobei man eine Kontinuität der Marginalisierung vom "Dritten Reich" zur Bundesrepublik unterstellte. Anfänglich rückte man sogar die Situation der "Gastarbeiter" in einen Zusammenhang mit der Ausbeutung von Zwangsarbeitern im NS-Staat.
Die Formel von den "vergessenen Opfern" wurde zu einem Element der Identitätspolitik verschiedener Gruppen, die in der Bundesrepublik um gesellschaftliche Anerkennung kämpften. Der Status als "Opfer" entwickelte sich dabei zu einer Ressource politischer Legitimation, womit ein Erbe der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Eingang in die politische Kultur der Bundesrepublik fand. In der Kulturkampf-Atmosphäre der achtziger Jahre, in denen heftig um die "Normalisierung" der deutschen Vergangenheit gestritten wurde, erwies sich das Engagement für "vergessene Opfer" zugleich als identitätsstiftend für das entstehende rot-grüne Milieu.
Der neue Opferdiskurs veränderte aber auch die Entschädigungspraxis selbst. Zuvor hatte man, streng bürokratisch, die soziale Proportionalität beibehalten. Die erfolgreichen Antragsteller wurden bei der Rentenberechnung in eine von vier Beamtenkategorien eingestuft, und zwar in Abhängigkeit von ihrer Lebenslage vor der Verfolgung. Infolge des neuen Opferdiskurses wurde nun mehr und mehr das erlittene Leid zur "Berechnungsgrundlage".
Durch diese Abkehr vom zivilrechtlichen Schadensersatzgedanken trat die Forderung nach symbolischer Anerkennung in den Vordergrund. Dahinter standen allerdings weniger die Betroffenen selbst (die durchaus ein Interesse an monetärer Entschädigung behielten) als vielmehr ihre selbst ernannten Fürsprecher. Auch Teile der Wirtschaft machten sich, ironischerweise, diese Argumentation zu eigen und nutzten die symbolische Anerkennung ehemaliger Zwangsarbeiter als Instrument der damals in Mode kommenden corporate social responsibility.
Am Ende des Kalten Krieges stellte sich die Entschädigungsfrage dann noch einmal neu, denn nun nahte, mit dem endgültigen Friedensschluss zwischen Deutschland und den Alliierten, der Tag, an dem die Reparationen fällig wurden, so wie man es 1953 vereinbart hatte. Auf dem Weg zur Wiedervereinigung 1990 strebte die Bundesregierung deshalb keinen Friedensvertrag an, sondern das sogenannte Zwei-plus-Vier-Abkommen – eine völkerrechtlich durchaus umstrittene Konstruktion, um die alten Forderungen abzuwenden. Zum Ausgleich einigte man sich auf weitere Entschädigungszahlungen, die vor allem den bisher weitgehend ignorierten NS-Opfern hinter dem Eisernen Vorhang zugutekommen sollten. Zu diesem Zweck schloss die Bundesrepublik unter anderem ein Abkommen mit der Jewish Claims Conference über Entschädigungsrenten für osteuropäische Juden sowie ein Pauschalabkommen mit Polen und den Nachfolgestaaten der UdSSR in Höhe von 500 Millionen beziehungsweise einer Milliarde D-Mark.
Bald darauf setzten zudem Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter vor US-Gerichten die exportorientierten Teile der deutschen Wirtschaft unter Druck. Den Unternehmen wurde vorgeworfen, sich an jüdischem Eigentum bereichert und in großem Maßstab von Zwangsarbeit profitiert zu haben. Viele befürchteten, nicht ohne Grund, einen geschäftsschädigenden Imageverlust.
Die Frage blieb über Jahre ungelöst – bis die 1998 an die Macht gekommene rot-grüne Koalition auf eine Lösung zurückgriff, die sie bereits während der achtziger Jahre in der Opposition entwickelt hatte: Sie schuf eine Stiftung, die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", um die noch ungelösten Entschädigungsfragen abschließend zu regeln. Mit einem von Staat und Wirtschaft bereitgestellten Kapital von insgesamt zehn Milliarden D-Mark ausgestattet, zahlte sie in den folgenden Jahren vor allem "symbolische Leistungen" an ehemalige osteuropäische NS-Zwangsarbeiter. So wurde auch der Rechtsfrieden in den USA hergestellt: Die US-Justiz hatte die Einrichtung eines solchen Entschädigungsfonds zur Voraussetzung gemacht, um Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen künftig abzulehnen.
Die NS-Verfolgten haben sich im Lauf dieser Auseinandersetzung in hochbetagte "Überlebende" verwandelt, die in vielen Fällen Hilfe für einen würdigen Lebensabend benötigen. Als Maßstab dient daher nicht mehr der einst erlittene Schaden, sondern die aktuelle Bedürftigkeit. Die Jewish Claims Conference, jahrzehntelang ein Motor für den Ausbau der Wiedergutmachung, konzentriert sich heute in ihren jährlichen Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium darauf, die Unterstützung für hilfsbedürftige jüdische Holocaust-Überlebende zu verbessern, deren Zahl sie 2014 mit noch rund 400.000 bezifferte. Die Stiftung EVZ kümmert sich vor allem um Not leidende osteuropäische NS-Opfer.
Ist die Entschädigung damit abgeschlossen? Ist sie gelungen? Diese Frage lässt sich kaum eindeutig beantworten, zumal wenn man sie auf das gesamte, uferlose Gewaltgeschehen des Zweiten Weltkriegs bezieht. Etliche Opfergruppen haben denn auch bis heute keine staatliche Entschädigung erhalten, obwohl ihr Schicksal dem der Zwangsarbeiter und Holocaust-Überlebenden gleicht, die Millionen russischen Kriegsgefangenen etwa, für die seit den neunziger Jahren der Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI in Berlin Spendengelder sammelt und für deren offizielle Anerkennung er unermüdlich wirbt.
Statt Entschädigungspolitik lieber Erinnerungskultur
Zur Ruhe gekommen ist die Entschädigungsdebatte also auch 70 Jahre nach Kriegsende noch nicht – selbst in juristischer Hinsicht setzte sich das Ringen bis in die jüngste Zeit fort. 2012 bestätigte der Europäische Gerichtshof in Den Haag den Grundsatz der Staatenimmunität, der es ausschließt, dass ausländische Staatsbürger zivilrechtliche Klagen gegen die Bundesrepublik einreichen. Genau dies hatten zuvor Nachfahren von Opfern eines von deutschen Soldaten verübten Massakers im griechischen Distomo getan. Die Erleichterung über das Urteil war groß, bei der Bundesregierung wie auch in anderen Staaten, die sonst eine Flut von Klagen wegen vergangener Gewalttaten hätten befürchten müssen – etwa Italien. Forderungen werden trotzdem bis heute gestellt.
Doch statt den steinigen Pfad der Entschädigungspolitik weiterzugehen, wählt man hierzulande lieber den samtenen Pfad der Erinnerungskultur. Gerne werden dann binationale Historikerkommissionen einberufen und Gedenkstätten eingerichtet, wie es etwa die Außenminister der Bundesrepublik und Italiens unternahmen, um die juristische und politische Auseinandersetzung um italienische Militärinternierte zu entschärfen, die 2004 gegen die Bundesrepublik vor Gericht gezogen waren, weil sie nach 1943 Zwangsarbeit hatten leisten müssen. Offizielle moralische Schuldbekenntnisse, wie die von Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Griechenlandbesuch im März 2014, gehen fast immer mit einer klaren Zurückweisung von Reparations- und Entschädigungsforderungen einher.
Man kann darüber streiten, ob dies der richtige Weg ist. Mit astronomischen Forderungen wurde denn auch immer wieder eine Drohkulisse aufgebaut, um der Bundesrepublik ein finanzielles oder politisches Entgegenkommen abzuringen. Das jüngste Beispiel sind die in Griechenland wiederholt erhobenen Ansprüche auf Reparationen, bei denen Zahlen von bis zu 160 Milliarden Euro durch den Raum geisterten. Der karitative Ansatz ermöglicht es dagegen zumindest, dass die noch lebenden Opfer nicht zum Objekt politischer Verhandlungsmanöver werden. So wie es aussieht, wird man auch in den kommenden, den letzten Jahren an ihm festhalten.
Hochtrabende Hoffnungen, wie man sie um die Jahrtausendwende gehegt hatte, scheinen sich indes nicht zu erfüllen. Damals hatten viele geglaubt, das deutsche Modell der Wiedergutmachung könne zur globalen Blaupause für den Umgang mit staatlichem Unrecht werden. Doch dafür gibt es keine Anzeichen. Bislang ist die Entschädigung der NS-Opfer ein Präzedenzfall ohne Nachfolger geblieben.
Constantin Goschler
Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.