Gustav Hilger (10. September 1886 in Moskau ; 27. Juli 1965 in München; Pseudonyme: Stephen H. Holcomb, Arthur T. Latter) war ein deutscher Diplomat. Er wurde vor allem als Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt sowie als russlandpolitischer Berater des Auswärtigen Amtes während des Krieges und der deutschen und US-amerikanischen Regierungen der 1950er und 1960er Jahre.
Reichsaußenminister v. Ribbentrop unterzeichnet am 28. September 1939 im Kreml den Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen der Reichsregierung und der Regierung der UdSSR. Links neben ihm der sowjetrussische Botschafter in Berlin Schkarzew, Gustav Hilger und Friedrich Gaus; dahinter (von rechts) Stalin, Außenkommissar Molotow, der sowjetische Generalstabschef und Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung Schaposchnikow und der deutsche Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg.
Hilger wurde 1886 als Sohn des deutschen Kaufmanns Otto Hilger (1857–1945) und seiner Gattin Luise Julie (1860–1924) in Moskau geboren, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. In seine „Heimat“ Deutschland kam Hilger besuchsweise erstmals 1904. Nach der Ausbildung zum Bauingenieur, die er von 1903 bis 1908 in Darmstadt absolvierte (Ingenieur-Diplom), wurde Hilger 1910 von der Firma des Armaturenfabrikanten Friedrich Hackenthal (F. Hackenthal & Co.) als ihr Vertreter in Moskau angestellt. 1912 heiratete er Marie Hackenthal (1893–1969), die Tochter seines Arbeitgebers. Aus der Ehe gingen später ein Sohn, der im Krieg starb, sowie eine Tochter, hervor. Während der Ersten Weltkrieges wurde er als „feindlicher Ausländer“ von der zaristischen Regierung in Wologda vom August 1914 bis Dezember 1917 interniert.
Nach dem offiziellen Ende des Deutsch-Russischen Krieges im März 1918 war er ab April in der Deutschen Hauptkommission für Kriegs- und Zivilgefangene tätig. Bis zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland im Dezember 1922 war Hilger als Leiter der Kriegsgefangenen-Fürsorgestelle in Moskau (Beauftragter der Reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene, auch Bevollmächtigter des Reiches für die Repatriierung deutscher Kriegsgefangener und Zivilinternierter) ein wichtiges Bindeglied zwischen Berlin und Moskau. In dieser Eigenschaft war Hilger in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz und der Nansenhilfe mit der Organisation der Rückkehr deutscher Staatsbürger in Russland nach Deutschland befasst.
1922 kam Hilger als Kontaktperson von Kanzler Joseph Wirth, den er in der Frage der Erweiterung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrages vom 6. Mai 1921 beriet, in engen Kontakt mit der deutschen Außenpolitik. Gustav Hilger (zweiter von Rechts) während des Besuchs des sowjetischen Außenministers Molotow in Berlin. Außerdem im Bild: Molotow (2. von Links) und Joachim von Ribbentrop (ganz rechts). 1923, nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem deutschen Reich und der Sowjetunion, wurde er an die deutsche Botschaft Moskau geholt. Dort versah er bis 1941 unter vier Botschaftern (Brockdorff-Rantzau, Herbert von Dirksen, Rudolf Nadolny und von der Schulenburg) Dienst als Beamter und stieg bis in den Rang eines Legationsrates auf. In der Zwischenkriegszeit nahm Hilger, der Deutschland als Vaterland, Russland aber als seine Heimat betrachtete, in den deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit eine Mittlerstellung ein. Als Anhänger des Rapallo-Kurses einer Annäherung beider Staaten und als einer der besten Kenner der sowjetischen Wirtschaftsverhältnisse (insbesondere von Industrie, Finanzen und Handel) war er maßgeblich an den Arbeiten zum deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag vom August 1939 beteiligt.
Als „Moskowite“ in den Jahren 1917 bis 1941 erlebte Hilger die brisanten politischen Ereignisse in der sowjetischen Hauptstadt aus nächster Nähe mit. So das Aufkommen des Sowjetsystems, den Tod Lenins, Aufstieg und Fall Trotzkis, den Triumph Josef Stalins, die Moskauer Schauprozesse usw. Als für Hilgers Zukunft bedeutungsvoll sollte sich die Bekanntschaft mit George Kennan und Charles Bohlen, zwei jungen Mitarbeitern der amerikanischen Botschaft in Moskau, erweisen, mit denen er sich in den Jahren vor 1941 eng anfreundete. Aufgrund seiner guten Russischkenntnisse wurde Hilger häufig als Dolmetscher zu politischen Verhandlungen und Gesprächen zwischen deutschen Diplomaten und Vertretern der sowjetischen Regierung herangezogen. In dieser Eigenschaft war Hilger auch im August 1939 als Dolmetscher an den Verhandlungen über den Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt beteiligt. Als Bindeglied zwischen dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem deutschen Botschafter von der Schulenburg einerseits und dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und seinem Außenminister Wjatscheslaw Molotow andererseits übersetzte er, zusammen mit seinem sowjetischen Pendant Wladimir Pawlow, die Äußerungen beider Seiten vom Deutschen ins Russische und umgekehrt. Am 23. August nahm Hilger schließlich an der Unterzeichnung des so zustande gekommenen Nichtangriffs-Vertrages in Moskau teil. Seine Aufgabe bestand dabei vor allem darin, die sowjetische (russischsprachige) Ausfertigung des Vertragstextes ein letztes Mal Probe zu lesen, bevor die deutschen Vertreter ihre Unterschriften unter dieser affigierten.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erfolgte über die Türkei ein Austausch mit den im deutschen Machtbereich befindlichen sowjetischen Diplomaten samt deren Gefolgschaften. Auf diesem Wege kehrte Hilger nach Deutschland zurück. Im Juli 1941 kam Hilger in die Kanzlei von Ribbentrops, in der er zum politischen Chefberater für Ostfragen („Russlandexperte“) wurde. Während des Krieges gegen die Sowjetunion fungierte er in dieser Eigenschaft unter anderem als Verbindungsmann zwischen dem Auswärtigen Amt und den zuständigen Stellen der SS. Von den elf sogenannten „Einsatzgruppenberichten“, die zu Koordinationszwecken in den höheren Etagen der SS und den diesen analogen regulären Ministerien zirkulierten, erhielt Hilger mindestens fünf zur Lektüre. Als Vertreter des Auswärtigen Amtes war er ab 1943 mit an der Koordination der Deportation italienischer Juden beteiligt.
Als Experte für Ostfragen fiel Hilger vor allem durch seine Unterstützung für die Aufstellung der aus russischen Kriegsgefangenen bestehenden antibolschewistischen Wlassow-Armee auf. In diesem Zusammenhang nahm er 1944 an der Gründung des Komitees zur Befreiung der Völker Russlands in Prag teil. Auf Hilgers wiederholt vorgebrachte Empfehlung, dass man den Krieg im Osten nur politisch, aber nicht militärisch gewinnen könne, ging Adolf Hitler nicht ein. Die Vorstellung, dass man der sowjetischen Bevölkerung gegenüber als Befreier auftreten müsse, um sie so zum massenweisen Überlaufen auf die deutsche Seite und zum Kampf gegen das Sowjetsystem zu bewegen, lehnt Hitler im Sinne seiner rassistischen Lebensraumideologie ab.
Nach dem Ende des Krieges fahndeten die Alliierten nach Hilger, den sie wegen „Folter“ suchten. Nachdem er sich am 19. Mai den US-Streitkräften in Salzburg ergeben hatte, wurde er zunächst in einem Kriegsgefangenenlager in Mannheim interniert. Zur Auswertung von erbeuteten deutschen Unterlagen über die UdSSR wurde er bald darauf in die USA nach Fort George G. Meade überstellt. Als Berater des CIA und des State Departments, des US-Außenministeriums, sollte er, insbesondere durch seine Freundschaft zu George F. Kennan und Charles Bohlen, bis zu seinem Tod Einfluss auf die Macher der amerikanischen Außenpolitik ausüben. Im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg trat Hilger nie auf; zwar wurde er einige Male angefordert, doch erfolgte nie eine Vorladung. So sagte in diesem Prozess am 17. April 1945 Sir David Maxwell Fyfe wörtlich: "Ich glaube, der Zeuge (Hilger) befindet sich in den Vereinigten Staaten, und es liegt ein Bericht vor, nach dem er für die Reise zu krank sein soll". Hilger dürfte sich damals schon in Silver Spring aufgehalten haben, wo er für einige Jahre lebte.
Die Bedeutung, die die US-Regierung Hilger zumaß, wird aus dem Umstand ersichtlich, dass das US-Militär seine Frau und seine Tochter, die sich bei Kriegsende in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands befanden, in einer Nacht- und Nebelaktion zunächst nach West-Berlin und von dort in die amerikanisch besetzte Zone und schließlich in die USA schaffte. Aussagekräftig in Hinblick auf den Wert Hilgers für die Amerikaner war dieses Unterfangen insofern, als die Umsetzung im höchsten Maße schwierig war, da Hilgers Angehörige unter ständiger Beobachtung durch die sowjetische Geheimpolizei standen. Die Sowjetunion hoffte namentlich, Hilger durch den „Köder“ seiner Familie irgendwann in ihre Zone locken und gefangen nehmen zu können, um dann entweder sein Wissen für ihre Zwecke zu nutzen, oder ihn in einen GULAG zu bringen. Bereits 1946 hatte die Sowjetunion um die Überstellung Hilgers, den sie offiziell als Kriegsverbrecher deklarierte, in ihre Gewalt ersucht.
In den USA wertete Hilger erst als Mitglied der sogenannten Gehlen-Gruppe, und später als Einzelberater für Ostfragen, für die CIA und die Ostabteilung des State Departments Material über die Sowjetunion aus, betrieb systematische Recherchen und arbeitete als Analytiker. Um seine Person vor der Öffentlichkeit abzuschirmen, gab man ihm dabei zunächst den Decknamen Stephen H. Holcomb und später Arthur T. Latter. In Bezug auf Deutschland gelangte er zu der Auffassung, dass für die Bundesrepublik Deutschland eine eigenständige Politik sachbezogener Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nicht mehr möglich sei, dass sie vielmehr nur in Anlehnung an die Westmächte sich behaupten könne. Ein entwaffnetes, neutralisiertes Deutschland würde die Sowjetunion dazu verleiten, es auf dem Wege über eine Art Volksfrontregierung zu seinem Vasallenstaat zu machen.
In den frühen 1950er Jahren war Hilger als eine Art parteimäßiger Sonderbotschafter der CDU für Konrad Adenauer in Washington D.C. tätig. Unter öffentlichem Druck, der zustande kam, nachdem Hilgers Verstrickungen in Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges zunehmend bekannt wurden, musste er 1953 nach Deutschland zurückkehren, absolvierte jedoch auch weiterhin häufige Besuchsreisen in die Vereinigten Staaten. Von 1953 bis 1956 war Hilger als Botschaftsrat (Berater für Ostfragen) im Deutschen Außenministerium in Bonn tätig, nachdem die Adenauer-Regierung ihn 1953 mit der Zusage, ihm bei einer Rückkehr in den Auswärtigen Dienst für drei weitere Jahre, bis 1956, sämtliche Pensionsansprüche zu erstatten, die ihm im Falle einer ununterbrochenen Tätigkeit im Auswärtigen Dienst von 1923 bis 1956 entstanden wären, zur Neuverpflichtung geködert hatte. 1957 wurde er für seine Arbeit mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
In den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichte er einige Bücher zur Sowjetunion, zur Person Stalins, sowie zur zweckmäßigsten, in der Zukunft einzuschlagenden Politik dem „Osten“ gegenüber. Bei der Einschätzung der Person Hilgers wird häufig zwischen seinen (wertneutralen) handwerklichen Fähigkeiten als Diplomat einerseits - die nahezu ausnahmslos als vorzüglich bewertet werden - und der moralischen Qualität seines tatsächlichen Handelns unterschieden. Letztere ist dabei mitunter sehr umstritten. Klaus Mehnert, ein Mitarbeiter der Moskauer Botschaft erinnerte sich 1982 in einem Zeit-Artikel, dass „unsere Botschaft von den anderen Vertretungen“ besonders um drei Mitarbeiter, darunter Hilger, beneidet worden sei. Bei Historikern finden sich Urteile wie, Hilger sei „der Prototyp des technisch kompetenten, gewissenhaften“ („the prototype of the technically competent, conscientious“) Diplomaten gewesen.
Zu Hilgers moralischer Schuld im Zusammenhang mit dem Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa, sowie zu seiner Verstrickung in die Verfolgung von Juden und anderen Gruppen fallen die Urteile unterschiedlich aus. Festzuhalten bleibt nach Wolfe jedoch: „It is thus beyond dispute that Hilger criminally assisted in the genocide of Italy’s jews.“ Über die Entscheidung der US-Regierung, Hilger trotz seiner fragwürdigen Vergangenheit zu beschäftigten, schrieb Wolfe: „His employment during the Cold War seems a rare case where the value of the intelligence he supplied appeared to the US-government to override his warcriminal service to the Third Reich.“ George Kennan verteidigte die Rekrutierung eines ehemaligen Nazi-Funktionärs als Geheimdienstquelle indessen mit den Worten: “He was one of the few outstanding experts on Soviet economy and […] politics, had long practical experience in analyzing and estimating Soviet operations on a day-to-day basis."